Renovabis-Chef über die Ukraine

„Ihre Stärke stärkt auch mich“

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Russlands Angriff auf die Ukraine trifft auch die Arbeit von Renovabis. Hauptgeschäftsführer Thomas Schwartz erklärt, welche Projekte der Krieg zerstört, wie das Hilfswerk jetzt umdenken muss – und warum er den Mut und Willen der Menschen in der Ukraine so sehr bewundert.

Thomas Schwartz, Hauptgeschäftsführer von Renovabis
Thomas Schwartz, Hauptgeschäftsführer von Renovabis

Was bedeutet der Krieg in der Ukraine für Renovabis?

Zunächst einmal bedeutet er eine Unmenge an zusätzlicher Arbeit. Wir haben jetzt neben all unseren Projekten in vielen Ländern die Notsituation in der Ukraine, in der wir von morgens bis abends versuchen, unseren Partnern zu helfen, so gut es geht. Das ist die eine Herausforderung.

Und was ist die andere?

Durch den Krieg müssen wir die Gründungsidee von Renovabis hinterfragen. Wir sind ja 1993 als Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken gegründet worden, um von der Friedensdividende, die wir nach der Wiedervereinigung genießen konnten, etwas an die Menschen in Osteuropa zurückzugeben. Unsere Gründung war ein Hinweis darauf, dass der Kalte Krieg ein Ende hat, dass Grenzen in Europa nicht mehr mit Waffengewalt verteidigt werden und dass ein Miteinander in Frieden und Freiheit möglich ist. Durch den terroristischen Angriffskrieg Russlands, durch seine menschenverachtenden Verbrechen in der Ukraine muss nun alles auf den Prüfstand. 

Inwiefern muss Renovabis seinen Auftrag nun neu denken?

Wir müssen noch stärker in Bildung, Dialog und Werteorientierung investieren, um die Kirchen und die Zivilgesellschaften in Osteuropa zu stärken. Und wir müssen noch besser klar machen, wie wichtig und befreiend eine offene, demokratische Gesellschaft ist – auch für den Glauben. Sie garantiert jedem Menschen, dass er seinen Glauben leben kann. Und sie garantiert, dass man sich auch über Glaubensfragen uneinig sein kann, ohne dafür Strafe oder Verfolgung fürchten zu müssen. Aber noch sind diese Themen Zukunftsmusik. Noch sprechen die Waffen, schlimmer als je zuvor. 

Was denken Sie, wenn Sie die Bilder von den Massakern sehen, die die russische Armee in der Ukraine veranstaltet, etwa in Butscha und Mariupol?

Ich bin fassungslos, zu welch schrecklichen Verbrechen Menschen im 21. Jahrhundert fähig sind, und das mitten in Europa. Ich hätte solche Verbrechen durch ein zivilisiertes Volk nicht mehr für möglich gehalten – und ich erachte die Russen immer noch als ein zivilisiertes Volk, auch wenn man daran angesichts der Bilder zweifeln kann. Ich kann nur mit dem ukrainischen Volk beten und zu helfen versuchen, wo immer ich kann. Gottseidank kann ich das als Leiter eines großen Hilfswerks.

Die Ukraine war immer eines Ihrer größten Förderländer. Welche Projekte hat der Krieg dort zerstört?

In der Tat ist die Ukraine seit langem eines unserer wichtigsten Projektländer. Wir haben immer 20 bis 25 Prozent unserer Mittel dort investiert, im vergangenen Jahr knapp sechs Millionen Euro. Ein Projekt, das jetzt gestoppt werden musste, ist besonders groß: Mit über einer Million Euro wollten wir in der Kontaktzone am Donbass 2500 traumatisierten Kindern und Jugendliche und ihren Familien in einem Resilienzförderprogramm mit Psychologinnen und Sozialarbeitern helfen, ihre Traumata aus dem Krieg der vergangenen Jahre zu verarbeiten. Das ist natürlich jetzt nicht mehr möglich.

Denn der Krieg tobt gerade dort besonders furchtbar.

Ja, und es sind auch nicht mehr 2500 Kinder und Jugendliche, die traumatisiert sind. Sondern mindestens tausend Mal so viele: 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche, wenn nicht noch viel mehr. Das heißt: Unsere Aufgabe wird in dramatischer Weise verschoben, aber keinesfalls aufgehoben. 

Wo gefährdet der Krieg noch Ihre Arbeit?

Den Bau von Kirchen und Gemeindezentren in der Ostukraine können wir zurzeit auch nicht unterstützen, denn das wird alles zerbombt. Es gibt Berichte, dass Gebäude, die wir gebaut und mitfinanziert haben, von Raketen vernichtet worden sind. Das ist schrecklich. Ganz schlimme Berichte haben wir von Plünderungen und Zerstörungen im römisch-katholischen Priesterseminar des Bistums Kiew im Norden von Kiew erhalten. Die russischen Aggressoren haben dort wirklich alles mitgehen lassen, was sie mitgehen lassen konnten. Sie zeichnen sich mehr durch erfolgreiches Plündern und Zerstören und Morden aus als durch erfolgreiches Erobern.

Was haben sie in dem Priesterseminar alles mitgehen lassen?

Waschmaschinen, Küchengeräte, Computer – alles, was tragbar war und einen Standard hat, der sich in Russland zu Geld machen lässt. Ansonsten schießen die Russen auch sehr gerne auf alles, was irgendwie katholisch aussieht. Marienstatuen sind als Zielscheiben verwendet und zerstört worden. Es ist wirklich erschreckend.

Was können Sie diesem Wahnsinn entgegensetzen?

Wir bauen dagegen jetzt Hoffnungszeichen auf. Gerade planen wir ein großes Stipendienprogramm mit der katholischen Universität in Lwiw. Wir wollen dort eine Million Euro für ukrainische Studentinnen und Studenten ausgeben, die im Westen der Ukraine studieren. Wir wollen ihnen zeigen: Wir trauen euch eine Zukunft zu – in eurem Land. Ich glaube, das ist ein wichtiges Zeichen, jenseits der Waffenlieferungen, hinter denen ich uneingeschränkt stehe, weil sie den Ukrainern das Recht auf Selbstverteidigung geben, das jeder souveräne Staat hat, der angegriffen wird. 

Wenn Sie den russischen Kriegsterror sehen und bedenken, wie sehr er Ihre Arbeit der vergangenen fast 30 Jahre infrage stellt, denken Sie dann manchmal: Es war alles umsonst?

Nein, das denke ich in keiner Weise. Unser Engagement hat sich schon deshalb wirklich gelohnt, weil der Machthaber im Kreml merkt, dass es gar nicht so einfach ist, dieses Land zu erobern. Und das liegt daran, dass wir in Menschen, in Herzen, in Köpfe investiert haben. Die Menschen haben den Hauch der Freiheit geatmet – und diese Freiheit wollen sie jetzt verteidigen gegen diesen Mann, der von Entnazifizierung redet, aber in Wahrheit selbst ein Faschist ist. 

Beteiligt Renovabis sich zurzeit auch an Nothilfe-Projekten?

Ja, wir haben in den vergangenen Wochen über 60 humanitäre Projekte unterstützt. Wir haben etwa Luftschutzkeller ausgestattet – mit Matratzen, Küchen, Notstromaggregaten, mit Heizung und Belüftung. Wir finanzieren Autos und Pritschenwagen für die Caritas, die damit mobile Küchen für Flüchtlinge bereitstellen. Wir stellen Menschen, die auf der Flucht sind, Unterkünfte zur Verfügung. Und wir geben Geld, um sie mit Kleidern, Essen, Hygieneartikeln und Medikamenten zu versorgen – zusammen mit der Caritas, den Maltesern und unseren Projektpartnern in der Ukraine.

Wie würden Sie die Stimmung bei Ihren Projektpartnern im Moment beschreiben?

Ich bin immer wieder beeindruckt von ihrem Mut, ihrer Überlebenshoffnung und ihrem Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Von ihrer Bereitschaft, das zu verteidigen, was sie sich aufgebaut haben: ihre Demokratie, ihre Freiheit, ihr Land, ihre Lebensform. Diese Menschen sind für mich Vorbilder – mit ihrer Kraft aus dem Glauben und ihrer Entschlossenheit, für ihre Werte einzustellen. Ihre Stärke stärkt auch mich. In gewisser Weise schaue ich sie aber auch mit Demut an. Denn ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn das bei uns geschähe, was sie jetzt erleben. 

Was heißt der Krieg für Ihre Projekte in Belarus und Russland?

Wir haben viele katholische Partner dort, denen wir auch weiterhin zur Seite stehen müssen. Sie sind eine verschwindende Minderheit, und sie brauchen unsere Hilfe. Im Moment finden wir noch Wege für diese Hilfe. Aber es wird sehr viel schwieriger. Klar ist: Wir werden ganz genau überlegen müssen, mit wem wir in Zukunft ökumenisch zusammenarbeiten können. Können wir noch mit einem Moskauer Patriarchat zusammenarbeiten – oder müssen wir nicht erstmal ganz genau hinschauen, welche Werte da von wem geteilt werden? 

Halten Sie eine Zusammenarbeit mit dem Moskauer Patriarchat unter Kyrill überhaupt je wieder für denkbar – einem Mann, der widerwärtigste Kriegspropaganda macht?

Ich würde nie nie sagen. Was ich sagen kann, ist: Mit dem jetzigen Patriarchen wird kein Staat mehr zu machen sein. Zum Glück bekommen wir aber auch Hoffnungszeichen von vielen Priestern der orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, auch in Russland, die sich ganz klar gegen den Wahnsinn dieses Angriffskriegs aussprechen. Warum sollten wir ihnen die Tür vor der Nase zuschlagen? 

Falls es mal eine Zeit nach dem Krieg geben sollte – welche Rolle könnte Renovabis dann bei einer möglichen Versöhnung spielen?

Im Moment fehlt mir jede Fantasie, wie so eine Versöhnung aussehen könnte. Klar ist: Der Anstoß zur Versöhnung muss von den Menschen in der Ukraine ausgehen. Er kann nicht von uns ausgehen. Es wäre wohlfeil und arrogant gegenüber den Opfern der Verbrechen des Krieges, wenn wir eine Versöhnungsinitiative starten würden. Wir werden bereitstehen, wenn wir um Hilfe gebeten werden. Wir werden überall dort unterstützen, wo Initiativen entstehen zwischen Kirchen, zwischen Menschen, zwischen Völkern, die danach gieren, sich wieder die Hände zu reichen und Versöhnung zu beginnen.

Interview: Andreas Lesch

 

Zur Sache:
Thomas Schwartz (57) ist seit September 2021 Hauptgeschäftsführer des katholischen Osteuropa-Hilfswerks Renovabis. Zuvor ist der Theologe zehn Jahre lang Pfarrer in Mering nahe Augsburg gewesen. Zugleich war er als Honorar-Professor für Wirtschaftsethik an der Universität Augsburg tätig.

Renovabis engagiert sich seit seiner Gründung 1993 für den Aufbau kirchlicher und zivilgesellschaftlicher Strukturen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa – und unterstützt soziale, pastorale und Bildungsprojekte in 29 Ländern. 

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