Kerzen an St. Petri erinnerten an Suizidopfer
Kampf gegen die Einsamkeit
Foto: Matthias Schatz
257 – so viele kleine brennende Kerzen waren am 10. September auf den Stufen des Eingangs zur Hamburger Hauptkirche St. Petri aufgereiht. Jede stand für einen Menschen, der sich 2022 in Hamburg selbst umgebracht hatte. Es ist ein Tabuthema, auf das an jenem Tag der Suizidprävention viele Passanten an der Mönckebergstraße, Hamburgs Einkaufsmeile, aufmerksam gemacht wurde. Freilich nicht für Nina von Ohlen, verantwortlich für die U25 Online Suizidprävention von In Via, einem Caritas-Fachverband, Frank Reuter, Leiter der ebenfalls der Caritas angegliederten katholischen Telefonseelsorge, die zudem ihr zehnjähriges Bestehen begeht.
Beide Institutionen entstanden aus sehr ähnlichen Gründen: Es gab mehr und mehr Anfragen Hilfesuchender mit suizidalen Gedanken. Zum einen beim Arbeitskreis Leben (AKL), der damit an die Caritas in Freiburg herantrat, zum anderen bei der Diakonie, die das Erzbistum Hamburg fragte, ob es nicht durch eine katholische Telefonseelsorge für Entlastung sorgen könne. U25 wendet sich dabei an junge Menschen bis 25 und bietet einen Online-Dienst. E-Mail-Partner am anderen Ende sind Personen gleichen Alters. „Die meisten jungen Leute wollen per E-Mail etwas loswerden, oft auch in kurzen Sätzen“, weiß Nina von Ohlen, die von Beginn an bei dem Projekt dabei ist. „Insofern ist das der richtige Kommunikationsweg“, sagt sie. Es gebe aber auch einige junge Menschen, die lieber mit einer Person sprechen wollten. „Da verweisen wir an die Telefonseelsorge.“
Einfluss sozialer Medien
Die spiele natürlich auch bei der Suizidprävention eine bedeutende Rolle, sei aber noch breiter aufgestellt, erklärt Frank Reuter. Auch Beziehungsprobleme, Trennungen und Arbeitslosigkeit seien Themen. „Junge Menschen haben oft Liebeskummer“, berichtet er. Auch die Telefonseelsorge biete einen Chat, der viel von jungen Leuten genutzt werde. „Da geht es vielfach um Abwertungen und Hilflosigkeit.“ Und die Altersgruppe ist eine andere. Die meisten Anrufer seien zwischen 40 und 80 Jahre alt.
Junge Menschen trieben viele Ängste und Hoffnungslosigkeit in Bezug auf das Weltgeschehen und den Klimawandel um, berichtet von Ohlen. Dominierend ist aber ein Thema bei beiden Seelsorgeeinrichtungen: Einsamkeit. Die Ursachen dafür sind laut von Ohlen und Reuter allerdings verschieden. „Viele junge Menschen leiden noch unter den Folgen der Isolation, die sie aufgrund der Coronapandemie erfuhren“, sagt von Ohlen. Eine weitere Rolle spielten in diesem Zusammenhang die sozialen Medien. „Zum einen wird dort eine schicke, vollkommene Welt dargestellt, der sich viele nicht gewachsen fühlen und sich daraufhin zurückziehen. Zum anderen geht es um Streit und Mobbing. Früher war das nach der Schule zu Ende. Heute wird das durch die sozialen Medien weiter ins Zuhause transportiert. Sie verschlechtern die seelische Gesundheit.“
„Ältere Menschen treiben hingegen Trennungen oder der Tod des Lebenspartners in die Einsamkeit“, weiß Reuter. „Einen weiteren Teil machen Depressionen und schwere Krankheiten wie etwa Krebs aus. Dann sehen viele keine Zukunft mehr für sich.“
Nicht jeder Anruf, in dem suizidale Gedanken geäußert würden, bedeute auch, dass derjenige aus dem Leben gehen möchte, sagt Reuter weiter. „Das heißt vielmehr: Ich möchte so nicht mehr weiterleben.“ Die derzeit 58 Ehrenamtlichen der Telefonseelsorge seien gut geschult, die Anrufer auf Augenhöhe und ohne Ratschläge zu begleiten. „Viele müssen einfach nur einmal sprechen, der Kontakt ist das Wichtige. Dann können sie vielleicht auch zu einer anderen Sicht auf ihr Leben kommen.“
Viele Ehrenamtliche, wenig Geld
Die Zahl der Suizide ist im vergangenen Jahr wieder gestiegen, nachdem sie zuvor lange rückläufig war. Laut Statistischem Bundesamt nahmen sich 10 304 Menschen das Leben. Das waren 1,8 Prozent mehr als im Vorjahr, gleichwohl 3,1 Prozent weniger als im Durchschnitt der letzten zehn Jahre. 73 Prozent waren Männer, 27 Prozent Frauen. An den Todesursachen insgesamt machten Suizide ähnlich wie in den Vorjahren einen Anteil von einem Prozent aus. „Bei älteren Menschen ab 55 ist die Suizidrate höher, allerdings ist die Suizidversuchsrate bei Jugendlichen die höchste“, ergänzt Nina von Ohlen. „Dem gilt es zu begegnen, weil auch ein Suizidversuch ein hohes Risiko bedeutet, dass es im weiteren Verlauf des Lebens einen weiteren Versuch gibt.“
Weder Nina von Ohlen noch Frank Reuter müssen sich Sorgen machen, genug Ehrenamtliche zu gewinnen. Wohl aber darum, sie auszubilden. Denn das kostet Geld. Der theoretische Ausbildungsteil innerhalb einer Gruppe umfasst rund 150 Stunden, der anschließende praktische Teil drei Jahre. Seit Jahren hat Reuter daher mit Planungsunsicherheiten zu kämpfen. „Ich würde gern am 16. November einen neuen Kurs beginnen lassen, habe aber noch keinen endgültigen Wirtschaftsplan für 2025.“ Hoffen tut er dabei auch auf Zuwendungen aus der Aktion „Hand in Hand für Norddeutschland“. Die Benefizaktion des NDR setzt sich diesmal gemeinsam mit den Bürgerstiftungen gegen Einsamkeit ein.
„Wir bilden im Schnitt pro Jahr zwölf Peer-Berater aus. Die bleiben mindestens ein Jahr, oft länger, dann gibt es einen natürlichen Wechsel“, berichtet Nina von Ohlen. „Es gibt einige Satndorte, die in diesem Jahr nicht ausbilden, weil sie nicht wissen, wie es im kommenden Jahr weitergeht.“
Helfen mag beiden Organisationen ihre Vernetzung. So ist U25 Teil des neu von In Via gegründeten Hamburger Netzwerkes Suizidprävention, dessen Schirmherrschaft Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer übernommen hat. Und auch die katholische Telefonseelsorge zählt zu einem Netz mit inzwischen mehr als 100 Standorten.