Schlusspunkt setzen
Kein Aufbruch ohne Abschied
Adobestock/baranq
Es gibt viele Abschiede: Der Sohn geht ins Ausland, die Tochter zum Studium, man selbst wechselt die Arbeitsstelle: In jedem Fall ist ein Abschied als Schlusspunkt wichtig. Ohne Abschied kann es keinen Aufbruch geben, sagt Pater Anselm Grün.
Wer etwas Neues beginnt und den kommenden Lebensabschnitt genießen will, sollte mit dem alten abgeschlossen haben. Das gilt für Schulabgänger, die eine Ausbildung beginnen, ebenso wie für Berufstätige, die in Rente gehen. Die jungen Leute werden mit einer Schulentlassfeier gewürdigt, viele Rentner mit einer offiziellen Verabschiedung aus dem Betrieb. Egal, ob sich die Senioren auf das Ende der Berufstätigkeit gefreut haben oder vor dem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust zurückschrecken: Das Rentnerdasein sollte bewusst begonnen werden.
Denn wer alten Zeiten nachtrauert, sei nicht offen für Neues, sagt der Buchautor und Benediktinermönch Anselm Grün. Auch unfreiwillige Abschiede müssen demnach durchlebt werden. Beispiele sind der Tod eines Angehörigen oder eine ungewollte Trennung: Sie haben Abschiede zur Folge, die den Betroffenen aufgezwungen wurden.
Abschied von der Kindheit
Wenn in Familien eins der Kinder auszieht, müssen sowohl Eltern als auch Kinder Abschied nehmen. Dabei gibt es diejenigen, die weggehen, und diejenigen, die bleiben. Der Sohn, der ein Freiwilligenjahr im Ausland macht, oder die Tochter, die zum Studium wegzieht, sind voller Vorfreude. Die Eltern helfen beim Umzug, müssen sich aber nun von dem Gedanken verabschieden, dass sie für das Leben des Kindes verantwortlich seien. Sie wissen, dass ihr Kind sein Leben selbst meistern wird, schließlich wurde es in der Familie gut darauf vorbereitet. Aber manchmal kommen die Eltern nicht gut mit ihrer eigenen neuen Rolle klar: Sie sind jetzt nicht mehr Mutter oder Vater, sondern einfach eine Frau oder ein Mann in mittleren Jahren.
Vor dem Auszug des Kindes können Familien ein Abschiedsessen geben. Die ganze Familie sitzt gemeinsam am Tisch, jeder darf formulieren, was er dem Abschiednehmenden wünscht, aber auch, was er vermissen wird, wenn dieser nicht mehr in der Familie ist. Die Abschiednehmende erzählt, was sie in der Familie gelernt hat, was sie wertschätzt und gerne mitnimmt in den neuen Lebensbereich.
Abschied aus dem Beruf
Wer aus dem Betrieb ausscheidet, wird meistens verabschiedet, so dass ein Schlusspunkt gesetzt ist. Anders sieht es aus, wenn man gekündigt wurde, dann verschwinden manche in den Resturlaub und kehren nicht zurück. Es ist aber sinnvoll, sich von der eigenen Abteilung und den am meisten geschätzten Kollegen zu verabschieden. Verschenken Sie ihre Zimmerpflanzen und nehmen Sie nur die privaten Sachen mit. Auch wenn mit dem Verlust des Arbeitsplatzes ein gesellschaftlicher Bedeutungsverlust einhergeht, wissen Sie, dass Gott Sie nicht nach Äußerlichkeiten beurteilt. Sie können sich fragen, was er mit Ihnen jetzt vorhat. Wer in Rente geht, kann gemeinsam mit Partner, Familie oder Freunden bewusst in den ersten Tag als Rentner oder Rentnerin gehen. Machen Sie einen kleinen Ausflug. Besprechen Sie, welche Erwartungen Sie an ihr Rentnerleben haben und ob sich die Vorstellungen aller Beteiligten decken.
Abschied von Sterbenden
Der Umgang mit Sterbenden erfordert besonderes Feingefühl. Oft fühlen sich Angehörige aber überfordert, manchmal wollen Sie nach dem Gespräch mit der Ärztin ihrem Angehörigen „die Wahrheit ersparen“. Anselm Grün schildert einen Fall, in dem die Familie im Krankenzimmer mit dem Kranken nur über Belangloses sprach, schnell die Themen wechselte, wenn es ernst wurde. Das sei nicht richtig, schreibt Anselm Grün, denn so haben sich zwar die Angehörigen wie geplant vor dem Gespräch gedrückt, aber auch dem Kranken, der spürte, dass sein Ende naht, die Möglichkeit genommen, seinen Zustand anzusprechen und sich zu verabschieden.
Beim Abschied von Sterbenden ist es nicht notwendig zu sprechen, das schweigende Dasitzen reicht, manchmal kann man auch die Hand halten. „Wenn Angehörige ständig reden, dann stören sie den Sterbenden auf seinem einsamen Weg durch das Tor des Todes“, schreibt Grün. Es reiche, bei ihm zu sein.
Abschied von Verstorbenen
Manchmal konnte man sich nicht von einem geliebten Angehörigen verabschieden, weil der Tod überraschend kam, nach einem Herzinfarkt oder durch einen Verkehrsunfall. Vielleicht genügt es, sich die Zeit für einen Abschied am Grab zu nehmen, manchmal bleibt aber das Gefühl von Schmerz und Schuld, weil man zu Lebzeiten nicht mehr miteinander sprechen konnte, die letzten Worte vielleicht unfreundlich waren.
Anselm Grün schildert, wie er einer Frau geraten hat, ihrem verstorbenen Mann im Nachhinein einen Brief zu schreiben, „in dem Sie ihm alles sagen, was ungesagt geblieben ist: was sie an ihm geschätzt habe, was er ihnen bedeutet hat und was Sie ihm wünschen.“ Einen zweiten Brief solle sie schreiben mit dem, was ihr Mann ihr sagen und wünschen würde, spontan, ohne groß zu überlegen. Beide Briefe solle sie aufbewahren und dann aufhören, sich Vorwürfe zu machen. Das Schreiben der Briefe werde schmerzlich sein und von Tränen begleitet, aber später fühle man sich getröstet.
Abschied von einer Beziehung
Manche jungen Paare trennen sich, weil ihre Lebensvorstellungen zu weit auseinanderliegen, die anfängliche Verliebtheit kann dies nicht überspielen. Ihnen sage nicht nur der Kopf, sondern auch das Herz, dass der Abschied sein muss. Wenn man sich für die Trennung entschieden habe, solle man nicht zu sehr der alten Beziehung nachtrauern, „mit solchen Grübeleien verbraucht man ganz viel Energie“, schreibt Anselm Grün.
Manchmal zerbrechen Beziehungen in der Lebensmitte, wenn die Kinder aus dem Haus sind oder wenn sich einer von beiden neu verliebt. Derjenige, der verlassen wird, kann den Schock oft jahrelang nicht überwinden. Doch es sei nötig, den erzwungenen Abschied zu durchleben, so Grün. Es gelte, zunächst das Gefühlschaos aus Wut, Angst, Trauer und Scham zu entwirren: Wo ist die Wut auf den oder die Ex und kann ich sie als Kraft für einen Neuanfang nutzen? Welche Angst habe ich vor der Zukunft und warum empfinde ich Scham darüber, dass es mir nicht gelungen ist, die Ehe aufrechtzuerhalten? All diese Gefühle könne man Gott hinhalten und auf seinen Segen vertrauen. Und sich selbst für einen Aufbruch wappnen und fragen: Was möchte ich jetzt leben?
Abschied von alten Gottesbildern
Glauben heißt weitergehen, sagt Anselm Grün, deshalb sei es wichtig, auch Abschied zu nehmen von alten Gottesbildern. Es brauche den Abschied von den kindlichen Gottesbildern, „dass Gott immer der liebe Vater ist, der uns immer schützt und der uns vor jedem Unglück bewahrt“, denn jeder erlebe in seinem Leben oder im Bekanntenkreis, dass das nicht stimmt. Ebenso müssten die Menschen Abschied nehmen vom destruktiven Gottesbild eines strafenden Gottes, der uns tagein, tagaus kontrolliert, was zu negativen Selbstbildern führe. „Gott bleibt ein Geheimnis“, schreibt Grün, aber manchmal könnten wir ihn spüren.
Abschied von Vertrautem
Anselm Grün rät dazu, sich nicht an Altem festzuklammern. Das bezieht sich auf Dinge, die wir horten, weil sie in einem bestimmten Lebensabschnitt wichtig für uns waren, und darauf, dass manche auf einem alten Lebensziel beharren, ohne zu sehen, dass die Umstände sich längst gewandelt haben.
Anselm Grün, Abschiede – Aufbruch in neue Welten,
Vom Mut, loszulassen, und der Kraft, weiterzugehen,
Herder, 22 Euro.
Zur Sache: Wie geht abschiedlich leben?
Abschiede gehören zum Leben dazu. Um sich darauf einzustellen, dass man für einen Neubeginn erst das Alte verabschieden soll, empfiehlt Anselm Grün, mit einer „abschiedlichen Haltung“ zu leben. Das könne man wie folgt einüben:
- Besitztümer und alte Freundschaften auf ihre Bedeutung für mein Leben hinterfragen und sich davon trennen können.
- Sich von der Vorstellung verabschieden, dass ein Leben ohne Leid möglich ist.
- Ungewissheiten aushalten und im Vertrauen auf Gott beten. „Wenn ich durch die Angst hindurchgehe, kann ich auf das Vertrauen stoßen, dass ich in Gottes guter Hand bin, dass sein Segen mich begleitet und beschützt.“
Gewohnheiten hinterfragen und Neues wagen. - Freiheit gegenüber dem Besitz entwickeln: Ich entscheide mich für einen einfacheren Lebensstil und muss nicht alles kaufen.
- Die eigene Lebensgeschichte annehmen und sich damit aussöhnen.
- Loslassen, was war, heißt, nicht vergessen, aber die Selbstvorwürfe einzustellen.
- Abschied von der Selbstbezogenheit führt zum Aufbau von Bindungen, zu Menschen, mit denen ich mich verbunden fühle.
- Zeitkultur entwickeln: Ich entscheide, wann ich mit einer Aufgabe anfange, statt sie vor mir herzuschieben, gönne mir aber auch Zeiten der Entspannung und Erholung (Abschied vom Druck).Dankbar sein für das Geschenk des Lebens und die eigene Endlichkeit akzeptieren. (kol)