Interview mit dem Soziologen Hartmut Rosa

"Kirche kann hochattraktiv sein"

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In seinem neuen Buch stellt der renommierte Soziologe Hartmut Rosa eine spannende These auf: Demokratie braucht Religion. Im Interview erklärt er, was er damit meint. Er spricht über die Kraft katholischer Rituale und die Wirkung von Kirchenräumen, über religiöse Haltungen und die Frage, warum sie in unserer oft sehr aggressiven Gesellschaft wertvoll sein können.

Foto: kna/Julai STeinbrecht
Kirchenräume können uns verwandeln, weil sie still sind, groß, so anders als andere Räume. Foto: kna/Julia Steinbrecht


Warum braucht die Demokratie die Religion?
Weil die Demokratie nur funktionieren kann, wenn Bürgerinnen und Bürger sich als Menschen begegnen, die einander etwas zu sagen haben – und die sich auch etwas sagen lassen. Es reicht nicht, dass ich eine Stimme habe. Ich brauche auch Ohren, die mich hören lassen. Und ich brauche ein hörendes Herz. Ein Herz, das mir hilft, mich durch das, was ich höre, verwandeln zu lassen. Dieses hörende Herz fehlt in unserer Gesellschaft heute oft.

Wie kann die Religion das ändern?
Religion bietet mit ihren Ritualen, Liedern und Räumen die Chance, diese Haltung einzuüben. Religion kann einen Sinn dafür geben, was das heißt: sich anrufen und verwandeln zu lassen. Wenn die Gesellschaft diesen Sinn verliert, dann ist sie erledigt. Die heutige Gesellschaft braucht die Kirche, und sie braucht die Religion. 

Und wie geht das konkret: diese Haltung durch religiöse Rituale und in religiösen Räumen einzuüben?
Das beginnt mit der Haltung, mit der ich in eine Kirche gehe. Die ist ganz anders als die Haltung, mit der ich ins Büro oder in den Supermarkt gehe. 

Inwiefern?
Überlegen Sie mal, was für ein Raum eine Kirche ist. Selbst Hardcore-Atheisten würden sagen: ein stiller, ein großer Raum; ein Raum, der anders ist. Wenn ich in eine Kirche gehe, habe ich keine To-do-Liste im Kopf. Ich denke nicht daran, was ich als Nächstes abarbeiten muss. Sondern ich schalte in gewisser Weise auf Rezeption, also darauf, mich von etwas erreichen zu lassen. Ich kann eigentlich gar nicht in den Aggressionsmodus gehen, in dem ich mich sonst oft befinde – außer ich bin Kirchenhasser und würde am liebsten das Kreuz von der Wand reißen. 

Davon gehen wir jetzt mal nicht aus. Was bewirkt der Kirchenraum dadurch, dass er so anders ist?
Ich glaube, er färbt ab. Wenn ich aus einer Kirche wieder herausgehe, habe ich erst mal eine andere Grundhaltung gegenüber den Menschen, denen ich begegne – und auch gegenüber meinem eigenen Leben.

Sie haben eben gesagt, dass wir uns in unserem Leben oft in einem Aggressionsmodus befinden. Wie meinen Sie das?
Ich beobachte diesen Aggressionsmodus eigentlich überall. Zum Beispiel in der Politik. Da wollen sich die meisten Leute in Parlamentsdebatten gerade nicht vom Argument der Opposition erreichen und verwandeln lassen, sondern sie warten nur darauf, ihre Gegner bloßstellen oder fertigmachen zu können. In Talkshows ist das noch schlimmer: Da geht es den Gästen gerade nicht darum, zu hören und zu antworten, sondern darum, zu entlarven und niederzumachen. Und das setzt sich dann auf der Straße fort.

Inwiefern?
Diese Haltung prägt die politische Kultur des ganzen Landes. Immer häufiger ist es so, dass wir die anderen nicht mehr hören wollen, sondern dass wir sie weghaben wollen. Die anderen sollen das Maul halten! Die USA sind uns in dieser Entwicklung ein paar Jahre voraus. Dort sind die Republikaner mehr oder minder bereit, die Demokraten umzubringen – aber umgekehrt sieht’s nicht viel anders aus. Man hält sich wechselseitig für Menschenfeinde, Volksverräter und Idioten, die stumm gemacht werden sollen. In Großbritannien war das bei den Brexiteers und Remainers ähnlich, bei uns in Deutschland zwischen Impfgegnern und Impfbefürwortern. Beide Gruppen wollen einander nicht hören – und sie wollen sich schon gar nicht von den Worten der anderen verwandeln lassen.

Eine bedenkliche Entwicklung. 
Das stimmt. Meistens wird Politik als Ort des unversöhnlichen Widerstreits, des Konflikts und der Interessendurchsetzung gesehen. Die Religion stellt dem eine andere Haltung gegenüber. Eine Haltung, die sagt: Ich will nicht einfach nur mein Interesse durchsetzen, sondern ich will, dass etwas Gemeinsames entsteht. Ich erkenne an: Der andere ist nicht nur mein Konkurrent oder mein Opponent, der sich ständig meiner wahren Einsicht oder meinen Interessen widersetzt. Er ist einer, der mich etwas angeht. Meine Hoffnung ist: Wenn ein Gläubiger diese Haltung einübt, verändert ihn das.

Diese Veränderung wäre so wichtig – zumal Sie in Ihrem Buch schreiben, dass der Aggressionsmodus auch die Klima- und Flüchtlingsdebatte prägt.
Ja, das Problem ist immer wieder dasselbe – egal um welches Thema es geht. In der Flüchtlingsdebatte sagen die einen, wir haben viel zu viele Flüchtende reingelassen; und die, die die Grenzen aufgemacht haben, sind doch Staatsverräter. Und die anderen sagen, wir sind selbst die Verbrecher, weil wir die Flüchtenden alle an den Grenzen ertrinken und erfrieren lassen. Beide Seiten haben das Gefühl, es gehe eigentlich um einen Kampf gegen Verbrecher. Und beide halten es nicht für möglich, dass es da auf der anderen Seite vielleicht auch Argumente gibt, die mir was zu sagen haben – und die etwas Neues hervorbringen könnten. In so einem Aggressionsmodus funktioniert Demokratie aber nicht.

Wo beobachten Sie den Aggressionsmodus noch?
In der ganzen Gesellschaft. Jedes Jahr müssen wir ein bisschen mehr schaffen, im Kleinen wie im Großen. Wir müssen uns immer mehr steigern, immer besser und immer schneller werden. Die Alten müssen noch mal mobilisiert werden, die Jungen müssen früher gefördert werden, ein Studium soll weniger Semester brauchen als früher. Unternehmen müssen immer innovativer sein, um Arbeitsplätze zu erhalten. Und die Wirtschaft muss wachsen, um irgendwie noch die Renten, die Pflege und das Gesundheitssystem bezahlen und aufrechterhalten zu können. Viele Menschen leben auch gegenüber sich selbst in einer Art Kriegszustand. 

Inwiefern?
Sie sind immer unzufriedener mit sich selber. Sie hätten gerne einen schöneren, fitteren, gesünderen Körper. Aber auch einen fitteren Geist: Sie möchten nicht so schnell aufgeregt sein, besser mit Stress umgehen, besser einschlafen können, morgens schneller hochkommen. Dieser permanente Steigerungszwang zieht sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche und er macht unser Verhältnis zur Welt und auch zu uns selbst aggressiv. 

Zumal wir trotz aller Anstrengungen von einer Krise in die nächste taumeln und viele Menschen nicht mehr glauben, dass es ihren Kindern mal besser gehen kann als ihnen selbst.
Das ist für mich ein entscheidender Punkt: Wir haben nicht mehr das Gefühl, wir gehen auf eine verheißungsvolle Zukunft zu, sondern wir laufen vor einem Abgrund weg, der uns von hinten einholt. Wir müssen jedes Jahr schneller laufen, um nicht in den Abgrund abzustürzen – nicht zuletzt durch die Klimakrise. Ich erlebe den Steigerungszwang übrigens auch selbst.

Wo erleben Sie ihn?
Wenn Sie wie ich an der Universität arbeiten, müssen Sie ständig mehr Drittmittel einwerben, mehr Studenten gewinnen, mehr internationale Kontakte knüpfen, mehr Publikationen herausbringen. Alles, was in unserer Gesellschaft so bleibt, wie es gewesen ist, gilt schnell als veraltet. Es gibt kaum gesellschaftliche Bereiche, die sich dem entziehen können. Aber die Kirche schon. 

Woran machen Sie das fest?
Zum Beispiel am Kirchenjahr. Mein Vater hat sich mal beschwert: „Seit 2000 Jahren ist das Kirchenjahr immer wieder die gleiche Geschichte.“ Ich aber finde: „Das ist genau der Punkt! Keine Innovation, keine Steigerung, kein Wachstum!“ Religion erinnert uns daran, dass eine andere Beziehung zur Welt möglich ist. Religion hat ein ganz anderes Konzept von Zeit. Und Religion kann durch seine Praktiken und Rituale dazu dienen, mit einem anderen in Verbindung zu treten. 

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Das ewige Licht leuchten zu sehen ...
Foto: kna/Harald Oppitz
 
Foto: kna/corinne Simon
... oder die Finger ins Weihwasser zu tauchen, 
kann uns verwandeln. 
Foto: kna/Corinne Simon

Wo zum Beispiel?
Im Vaterunser trete ich in Kontakt mit Gott – also mit einer ultimativen Realität, die für mich unverfügbar bleibt, die ich nicht genau kenne und über die ich schon gar nicht bestimmen kann. Dieses Gebet ist nicht einfach ein alter Zopf und langweilig und das Immergleiche, sondern es kann eine Möglichkeit sein, sich verwandeln zu lassen. Das Beten finde ich sowieso superinteressant. 

Warum?
Das Gebet ist eine so einfache wie wirkungsvolle Praxis. Wer betet, richtet sich zugleich nach innen und nach außen. Er spürt, wie sein Innerstes sich mit dem Äußersten verbindet, mit Gott. Im Gebet können wir mit Gott nicht nur in Beziehung treten, wir können sogar mit ihm streiten, und er lässt sich auch von uns erreichen.

Was bewirkt das?
Da, wo solch eine Resonanz zustande kommt, verwandle ich mich. Ich komme in eine andere Stimmung und auf andere Gedanken. Ich fange an, die Welt anders zu sehen. Gerade das rituelle Reservoir der katholischen Kirche hat enorme Kraft. 

Wo?
Das Kreuzzeichen, das Weihwasser, das ewige Licht – all das lässt erahnen, dass da etwas ist, das mit meinem Innersten, mit meiner Seele in eine Wechselwirkung tritt. Ich bin aktiv, ich tauche die Fingerspitzen in das Weihwasser und mache damit das Kreuzzeichen. Aber ich bin auch passiv und merke: Das macht was mit mir, es geschieht etwas, das mich verwandeln soll. So bietet die Kirche die Möglichkeit, eine alternative Haltung zum modernen Aggressionsmodus erleben zu können. Und einzuüben, was es heißt, ein hörendes Herz zu haben.

Sie erwähnen in Ihrem Buch auch Gottes Satz „Ich habe Dich beim Namen gerufen“. Warum ist der in diesem Zusammenhang so wichtig für uns?
Weil dieser Satz eine große Kraft hat. Er gibt uns einen Sinn dafür, dass am Grund meiner Existenz nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum liegt, sondern eine Antwortbeziehung. Ein existenzieller Sinn. Der Satz sagt: Unsere Existenz und die Welt stehen in einem positiven Zusammenhang. Da ist einer, der hat dir den Atem des Lebens eingehaucht, der hat dich gemeint, der hat dich angerufen und der hört dich – auch wenn er nicht im Hier und Jetzt verfügbar ist. 

Und was bewirkt das?
Es gibt uns einen Sinn für Selbstwirksamkeit, wenn wir spüren: Ich bin gerufen und gemeint! Ich glaube: Wer sich nicht gerufen und gemeint fühlt, funktioniert auch nicht als Bürger in der Demokratie. Um eine demokratische Gesellschaft mitzugestalten, brauche ich einen starken Sinn dafür, dass ich einen legitimen Ort in dieser Welt habe. 

Ihre Argumentation klingt sehr schlüssig. Nun verlieren die Kirchen aber in unserer Gesellschaft dramatisch an Bedeutung. Ist da ihr Wert für die Demokratie nicht nur bloße Theorie?
Was ich sage, ist erst mal eine Analyse. Praktische Auswirkungen hat sie per se natürlich nicht. Die Frage ist, was wir mit der Analyse machen. Ich glaube schon, dass die Gesellschaft davon profitieren würde, wenn sie das, was die Religion vermitteln kann, stärker aufnähme. Aber sie tut’s nicht. 

Die Kirche verliert massenhaft Mitglieder und wird immer weniger gehört.
Ja, aber ich glaube, es wäre falsch, jetzt zu fragen: Wie kriegen wir die Leute wieder in die Kirche? Wie können wir sie locken? 

Warum finden Sie diese Frage falsch?
Man darf nicht versuchen, Sachen interessant für andere zu machen. Sondern sie müssen einen erst mal selber interessieren. Ich glaube, die Kirche täte gar nicht falsch daran, den Blick erst einmal nach innen zu wenden und zu fragen: Wo machen wir starke Erfahrungen mit uns selbst, mit anderen und mit Gott? Wo erfahren wir das, was ich Resonanz nenne? Solche Erfahrungen wirken ansteckend. Wenn Gläubige die machen und davon erzählen, sagen andere vielleicht: Das will ich auch haben.

Heute klingen viele kirchlich Engagierte und Verantwortliche aber eher frustriert. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie manchmal geschockt sind, wenn Sie von ihnen hören: „Das ist nun mal so: dass uns eigentlich keiner mehr hören will.“ 
Ich finde das wirklich bekümmerlich. Denn ich denke: Kirche hat doch was anzubieten. Sie kann hochattraktiv sein, auch für Leute, die gar nicht kirchennah aufgewachsen sind. Aber um andere zu begeistern, müsste sie erst mal sich selbst begeistern. Die Kirche muss die Erwartung haben: „Was ich zu sagen habe, ist wichtig. Die Leute wollen das hören! Die lassen sich davon berühren und verwandeln.“ Diese Haltung ist ein bisschen verloren gegangen. Wenn die, die in der Kirche aktiv sind, das wieder entdecken und leben, dann wird das auch ausstrahlen.

Und dann könnte die Kirche das Potenzial, das sie für die Demokratie hat, ideal einbringen?
Ich würde nicht sagen, die Kirche muss etwas in die Demokratie einbringen. Ich würde sagen: Da, wo die Kirche funktioniert, wird das eine Wirkung auf die Demokratie haben. 

Interview: Andreas Lesch

 

Zur Person: Hartmut Rosa - ein ausgezeichneter Soziologe

Foto: Universtität Jena/Jürgen Scheere
Hartmut Rosa
Foto: Universität Jena/Jürgen Scheere

Hartmut Rosa (57) ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt. Für seine Arbeiten erhielt er zahlreiche Auszeichnungen.

Sein jüngstes Buch heißt „Demokratie braucht Religion“. Hartmut Rosa fragt darin: Was verliert die Gesellschaft, wenn die Religion darin keine Rolle mehr spielt? Worin liegt das Potenzial der Religion für unsere Zukunft als Demokratie? Das Buch ist im Kösel-Verlag erschienen. Es hat 80 Seiten und kostet 12 Euro.