Kirche und Prostitution
„Kirchen sollen das heiße Eisen anpacken“
Um Wege aus der Prostitution ging es bei einer Podiumsdiskussion in Berlin. In den Interviews auf dieser Seite fragt Geneviève Hesse Aktivisten und Referenten nach der Haltung der Kirche. Im ersten Gespräch traf sie auf Inge Bell von Solwodi und Terre des Femmes und die Traumatherapeutin Ingeborg Kraus.
Was halten Sie von der Position der deutschen Kirchen über Prostitution?
Ingeborg Kraus | Foto: privat |
Kraus: In jeder deutschen Großstadt existieren Beratungsstellen für Prostituierte. Fast alle sind kirchlich. Dem Sexkaufverbot gegenüber nehmen sie eine feindliche Haltung ein. Sie dienen den betroffenen Frauen zwar als Anlaufstelle, helfen ihnen aber nur dabei, im Prostitutionsgeschäft zu überleben. Insofern sind Caritas und Diakonie mächtige Säulen der Sexindustrie: Sie tragen dazu bei, dass Frauen in ihrer prekären Situation verharren. Folglich legitimieren sie die psychische und physische Zerstörung der Frauen durch Männer, die sich den erniedrigenden Zugang zu ihren Körpern erkaufen. Auf der katholischen Seite kenne ich nur Solwodi, das sich für das nordische Modell (nach dem die Freier bestraft werden, Anmerkung der Redaktion) einsetzt, auf der evangelischen Seite Neustart.
Welche Position wünschten Sie sich von den Kirchen?
Bell: Die Kirchen sollen das heiße Eisen Prostitution endlich richtig anfassen – unter dem Aspekt der Moral. Derzeit geben viele kirchlich getragene Beratungsstellen eher Verbleibehilfen in die Prostitution. Das darf nicht sein. Prostitution ist mit der Kirchenlehre nicht vereinbar. Gott schuf Mann und Frau nach seinem Bild. Christen haben den Auftrag, sich für die von Gott gegebene Würde des Menschen einzusetzen. Auch Papst Franziskus setzt sich massiv gegen Menschenhandel ein. Erst kürzlich hat sich die vatikanische Universität des Themas Menschenhandel und Prostitution angenommen.
Was ist das Unmoralische an der Prostitution?
Kraus: Die Frau wird zu einem Objekt und ihre Genitalien zu einem Arbeitswerkzeug degradiert, das die Käufer nach Lust und Laune benutzen dürfen.
Inge Bell | Foto: Uwe Klössing |
Bell: Die Möglichkeit, Sex zu kaufen, prägt das Frauenbild unserer Gesellschaft. Der weibliche Körper wird zur Ware. Deshalb fordern wir bei Solwodi und Terre des Femmes Strafen gegen die Freier, wie es in vielen Ländern bereits praktiziert wird. Damit Männern bewusst wird: Die Körper von Frauen und Mädchen stehen nicht zum Verkauf.
In deutschen Medien behaupten Frauen, sie täten es liebend gerne …
Kraus: Sie sind nur eine minimale Spitze des Eisbergs, die auf der Seite der Zuhälter-Strukturen gewechselt hat oder Domina-Studios betreibt – mit körperlicher Distanz zu den Kunden. Oder es sind Frauen, die psychisch und materiell so sehr gefangen sind, dass sie ihre Traumata leugnen müssen. Aktuell sind 90 Prozent der Frauen in der Prostitution Ausländerinnen aus Osteuropa, die kaum Deutsch können. Sie sind in dem System Prostitution eingesperrt. Alle würden sofort aufhören, wenn sie echte Hilfe bekämen.
„Wir wollen Hoffnung geben“
Der Streetworker Gerhard Schönborn vom ökumenischen Verein „Neustart“ fordert ein anderes Bewusstsein der christlichen Wohlfahrtsverbände im Umgang mit Prostitution.
Was kritisieren Sie an den meisten kirchlichen Beratungsstellen?
Ihr klassisches Thema ist Armut und Unterdrückung. Deswegen sollten sie prostituierten Frauen helfen, ohne Rücksicht zu nehmen auf die, die sie ausbeuten: Die Bordellbetreiber, Zuhälter und Sexkäufer.
Gerhard Schönborn |
Sehen sie alle Prostituierten als Opfer?
In meinem Dienst am Straßenstrich begegnet mir vor allem Not. Die Frauen würden lieber heute als morgen aufhören, wenn sie nur könnten. Es gibt höchstens eine Handvoll Selbstbestimmte. Die Frauen, die es gerne tun, sehe ich meist nur auf Veranstaltungen – als Vertreterinnen der Prostitutionslobby.
Ist es keine christliche Position, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Frauen zu verbessern?
Doch. Auch wir geben ihnen Essen, Kleidung und Kondome – aber mit dem Ziel, sie zu stabilisieren, ihnen Hoffnung auf ein neues Leben zu geben, damit sie den Ausstieg wagen. Auf jeden Fall sollte man ihnen keine Vorwürfe machen, das wäre das alte Denken der Kirche. Diejenigen, die sich schuldig machen, sind die Sexkäufer. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel.
Warum hören die Frauen nicht einfach auf?
Rund 80 Prozent sprechen kaum Deutsch und haben große Probleme, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Zusätzlich zu ihrer Traumatisierung: Sie haben überwiegend keine Krankenversicherung, keinen Anspruch auf Sozialhilfe, sie sind nirgendwo gemeldet und leben oft auf der Straße. Sie existieren praktisch gar nicht, obwohl es mehrere Zehntausende von ihnen hierzulande gibt.
„Zustimmung kann man nicht kaufen“
Die Irin Rachel Moran und die Deutsche Marie Merklinger vom internationalen AussteigerinnenNetzwerk „Space International“ stimmen mit der Kirchenlehre gegen Prostitution überein.
Was halten Sie von der Haltung der deutschen Kirche zur Prostitution?
Rachel Moran |
Moran: Der deutsche Papst Ratzinger hat die Prostitution als eine Verletzung der Menschenrechte bezeichnet. Das ist ein klares Statement. Sein entsprechender Text wurde mir im Vatikan vorgelegt und übersetzt, als ich dort im Jahr 2015 war. Er sagt eindeutig, dass man zwischen guter und schlechter Prostitution nicht unterscheiden kann. Sie ist immer eine schlimme Sache gegen die Menschenrechte. Sexuelle Zustimmung lässt sich nicht kaufen, höchstens sexuelle Unterwerfung.
Viele werden in Deutschland eine solche Meinung in einem Sack mit der strengen Sexualmoral der Kirche werfen…
Merklinger: Mir gefällt auch nicht, was die Kirchenlehre über Verhütung oder Abtreibung propagiert. Aber ihre offizielle Position gegen Prostitution finde ich gut. Prostitution ist ein Feind des freien, sexuellen Ausdrucks – insbesondere der Frauen. Es geht nur darum, die Bedürfnisse der Männer zu befriedigen, nicht diejenigen der Frauen. Die Frau benimmt sich wie ein Stereotyp – so wie der Mann sich vorstellt, dass eine Frau sein soll. Es verändert die Männer im Umgang mit allen Frauen, auch ihren Ehefrauen.
Haben Sie eine persönliche Beziehung zur christlichen Kirche?
Moran: Ich bin irische Katholikin. Meine Ansichten über Prostitution basieren aber auf dem säkularen Standpunkt der Menschenrechte, nicht auf meinem Glauben. Es sind getrennte Themen.
Marie Merklinger | Foto: perezyperez |
Merklinger: Ich bin Atheistin, aber das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ ist mir wichtig und sollte von allen mehr beherzigt werden. Es ist keine Liebe, jemanden zur eigenen Benutzung zu kaufen.
Die meisten christlichen Organisationen in Deutschland setzen sich nicht für ein Sexkaufverbot ein. Sie wollen lieber die Arbeitsbedingungen der Frauen in der Prostitution verbessern …
Merklinger: Ich finde es unchristlich. In der Prostitution müssen Frauen das Intimste verkaufen, ohne Vorbereitung, ohne Liebe, ohne Nähe, ohne Würde. Das kann keine Arbeit sein. Es ist auch für den Mann würdelos, eine Frau zur Abfuhr seiner Triebe zu kaufen. Sogar bei einem One-Night-Stand ist es grundsätzlich anders. Es gibt immerhin ein Werben umeinander, und vor allem keinen Geldaustausch.