Impuls zum Sonntagsevangelium am 11.02.2024

Lepra: Im Gespensterhaus

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Raoul Follereau
Nachweis

Foto: imago/kharbine-tapabor/Jean Pottier

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Raoul Follereau war dafür bekannt, den Finger in die Wunden der Welt zu legen.

Jesus heilte Aussätzige. Was im Markusevangelium noch als Wunder galt, war im 20. Jahrhundert auch medizinisch möglich. Doch man tat es nicht. Bis sich Raoul Follereau für die Leprakranken einsetzte.

In einem Leprosenhaus fand Raoul Follereau einen kleinen Jungen, etwa sieben Jahre alt, fast völlig gesund; nur einen winzig kleinen Fleck hatte das Kind auf der Stirn. Ein beginnender Aussatz, den eine einfache Sulfon-Kur für immer beseitigen könnte. Follereau versuchte verzweifelt, den Arzt zu überzeugen, dass die Krankheit nicht ansteckend ist und das Kind die Anstalt verlassen kann. „Doch wenn es hierbleibt, inmitten all dieser von Aussatz verfaulten Wesen, ist es verloren. Sehen Sie doch: Es ist noch so jung und kann noch lächeln! Öffnen Sie die Türe. Es muss doch eine Mutter haben. Es muss seine Mutter wiederhaben!“ Der Arzt blickte ihn entrüstet an. „Aber, mein Herr“, erwidert er, „hier ist es sehr glücklich. Wir haben ihm ein Fahrrad gekauft!“

Lepra ist eine Krankheit wie alle anderen, nicht ansteckender und genauso heilbar – außer im weit fortgeschrittenen Stadium. Aber eine panische Angst vor dem Aussatz verhinderte oft jede Behandlung und verdammte die Kranken zu einem menschenunwürdigen Leben im Ghetto.

Besessen von seiner Idee verzichtete der Franzose Follereau auf seine literarische Karriere, um dreißig Jahre lang im Dienst der Leprakranken um die Welt zu hasten. Der 1903 in Nevers geborene Industriellensohn brachte mit 17 sein erstes Buch heraus. Seine Gedichte wurden in der Comédie Française vorgetragen, etliche seiner Dramen erreichten mehr als tausend Aufführungen.

Doch bald schon zeigte sich, dass Follereau alles andere war als ein verspielter Schöngeist. Er gründete eine Liga zur „Verteidigung der christlichen Zivilisation gegen jede Barbarei“, die Franzosen liebten es pathetisch. Er unterstützte die „Kleinen Brüder und Schwestern Jesu“, die mit Slumbewohnern, Obdachlosen und Fabrikarbeitern zusammenlebten. Und kurz vor Ausbruch des Krieges mit Deutschland veröffentlichte er eine Artikelserie „Hitler, das Gesicht des Antichristen“. Als die Nazis in Paris einmarschierten, ging Follereau in den Untergrund. Aktiv blieb er auch dort und brachte seine Idee einer „Stunde der Armen“ unter die Leute. Jeder sollte bewusst eine Stunde pro Jahr für die Menschen am Rand der Gesellschaft arbeiten.

Er gründet ein Behandlungszentrum

Ein paar Jahre später entdeckte er die „schmerzlichste unterdrückte Minderheit der Welt“, wie er sie nannte: die Leprakranken. Rund um den Erdball besuchte er Leprastationen. In den folgenden Jahren hielt er zahllose Reden, schrieb Berge von Briefen, verfasste rund 50 Broschüren und Bücher, besuchte 102 Länder und legte zusammen mit seiner Frau weit über zwei Millionen Kilometer zurück – unter unvorstellbaren Bedingungen, oft unter Lebensgefahr.

In der Apotheke einer solchen Station fand Follereau exakt drei Päckchen Verbandszeug. „Man hebt sie der Merkwürdigkeit halber auf“, berichtete er sarkastisch, „denn die Wunden der Aussätzigen sind unbedeckt und blutig. Das Erstaunlichste ist übrigens, dass überhaupt eine Apotheke da ist. Denn die Anstalt ist auf der Karte des Gesundheitsdienstes überhaupt nicht verzeichnet. Ein Gespenster-Leprosenhaus.“

Beschämt notierte Follereau die Begegnung mit der amputierten und fast gelähmten Frau, die sich dort im „Gespensterhaus“ zu den Besuchern hinschleppte und seiner Frau ein Ei hinhält – ihr ganzer Reichtum! Zornig berichtete er vom einzigen, schüchtern geäußerten Wunsch eines blinden Leprakranken: eine Schaufel und eine Hacke, um die Toten begraben zu können; mit den halbverfaulten Händen allein sei das schwer zu bewerkstelligen.

Mit den bei Vortragsveranstaltungen zusammengesammelten Millionenbeträgen richtete das Ehepaar Follereau ein großes Behandlungszentrum mit 500 Betten an der Elfenbeinküste ein und viele kleine Siedlungen, welche die bisherigen Leprosenhäuser ablösten und den Kranken ein menschenwürdiges Leben ermöglichen sollten.

Ein sentimentaler Idealist ist Follereau nie gewesen. „Es handelt sich nicht darum“, stellt er klar, „zu den Leprakranken zu gehen aus abgeschmackten und lächerlichen romantischen Gefühlen heraus und mit einem Gesänglein des Mitleids auf den Lippen. Man muss sich vielmehr zum Dienst an ihnen verpflichten und durch unerlässliche Studien erworbenes Fachwissen mitbringen.“

Mit dem Wert eines Flugzeugträgers, so Follereau in seinen Aufrufen, könnte man 400 000 Menschen ein Jahr lang ernähren. Drei Millionen Jugendliche aus 125 Ländern unterschrieben seine Forderung an die Uno, jedes Land solle die Rüstungskosten eines einzigen Tages für den Kampf gegen Hunger, Seuchen und Slums zur Verfügung stellen. 

Lepra ist heute leicht heilbar

Heute werden jährlich rund 200 000 Neuerkrankte in mehr als 60 Ländern der Erde behandelt. Die Krankheit kann man bereits im Frühstadium erkennen und mit einfachen, billigen Methoden heilen: Bäder, Massagen, Bewegungstherapie, früher lebenslang einzunehmende Tabletten, heute ein kombiniertes Präparat für rund 15 Euro, das die Krankheit in sechs bis höchstens 36 Monaten völlig ausheilt.

Von einem „verfluchten Dorf“ hat der 1977 gestorbene Follereau erzählt, das auf der Landkarte nicht verzeichnet war. In seiner Autobiografie schildert er, wie in diesem Dorf, dessen Bewohner quasi nicht existierten, zehn Jahre später der Welttag der Aussätzigen gefeiert wurde. Gar der Präsident der Republik nahm daran teil, berichtete Follereau: „An der Spitze eines imposanten Zuges schreitet er auf der neuen Straße, die anstelle des schmachvollen kleinen Weges von einst gebaut worden ist. Hier fallen große Anschlagtafeln ins Auge. Darauf steht: ‚Wir haben tausend Ölpalmen gepflanzt.‘ Und weiter: ‚Wir haben 24 Hektar gerodet. Wir haben aus dem Nichts fruchtbare Felder angebaut.‘ Und noch weiter: ‚Wir haben grünende Wiesen geschaffen.‘ Wer ist das Wir? Die Aussätzigen.“

Christian Feldmann