Bechers Provokationen
Mehr als Spitzenschneiden
Unsere Provokationen schauen hinter Stein-Gewordenes und suchen nach der Glut unter der Asche, nach dem Kern der Botschaft, nach dem Feuer im Herzen. Heute geht’s um Andersorte als glaubwürdiger Raum der Kirche. Von Johannes Becher.
„Eigentlich geht es nicht um die Kirche, sondern um das Reich Gottes. Es geht immer und vor allem darum, dass Gottes heilende und liebende Gegenwart überall erfahrbar werden kann, überall erlebt werden kann.“
Dr. Christian Hennecke, einer der Motoren einer visionären Kirchenentwicklung in Deutschland, bringt es auf den Punkt: „Es geht nicht um die Kirche, sondern um das Reich Gottes.“
Wo das ist? Anfanghaft mitten in der Welt. „An den vielen Orten des Lebens.“ Aufgabe und Chance für kirchliches Leben zugleich. Der Pastoraltheologe Hans Hobelsberger spricht von „pastoralen Orten und Gelegenheiten“ überall dort, „wo sich um der Menschen und um ihres Heiles willen Existenz und Evangelium begegnen und herausfordern.“
Seine Kollegin Maria Elisabeth Aigner nennt es die „krea-tive Konfrontation von Leben und Evangelium“. Oder mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil gesprochen: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute … sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen Widerhall fände.“ Das ist so etwas wie die Präambel eines kirchlichen Grundgesetzes. Die Fragen der Menschen müssen die Fragen der Kirche sein. „Kein Ausweichen möglich“, folgert die Theologin Birgit Hoyer.
Das ist eine Herausforderung in einer Zeit, in der die Frohe Botschaft auf Mobilität und Digitalisierung stößt. In einer Zeit, in der Geiz geil ist und der Mensch sich selbst genug. Und doch bleibt er in seiner Existenz zerbrechlich. Hilflos in den Grabenkämpfen der abkühlenden Gesellschaft. Woher kommt ihm Hilfe? An den klassischen kirchlichen Anlaufpunkten kommt sein Rufen nicht an. Dort ist zu viel Gestern. Dort sind zu viele Antworten, die nicht zu seinen Fragen passen. Wer sich hier nicht an Vorgaben anpasst, der findet keinen Platz.
Längst hat sich „Kirche“ ja deshalb schon gewandelt: von der Komm-her- zur Geh-hin-Kirche. Bleibt die Frage: Wer geht hin? Wie? Und vor allem: Wohin?
In der Pastoraltheologie spricht man heute von „Andersorten“.
Man bedient sich mit diesem Begriff der Überlegungen des Philosophen Michel Foucault. Der nennt schon Ende der 60er Jahre Andersorte „Gegenplatzierungen … in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte.“ Kurz gesagt: Andersorte sind Orte, wo das Evangelium aufs Leben trifft.
Nun mag man sagen, Kirche sei doch in einer ganz und gar verweltlichten und egoistischer werdenden Gesellschaft immer schon ein Andersort. Stimmt! Das gilt seit biblischen Zeiten für so viele Orte: von der Arche bis zum leeren Grab. Das gilt heute generell für jeden Kirchturm, der sich gen Himmel erhebt und mahnt: Seid anders! Das gilt gerade, wenn an den Schnittstellen zur modernen Welt Klöster, Wallfahrtsorte, Jugendkirchen, Wärmestuben und Kleiderkammern ihre Türen offen halten … Trotzdem sind das alles noch mehr Orte einer Komm-her-Kirche.
Künftig aber wird es nicht mehr darum gehen, zu fragen, ob das Kirche ist, wo wir landen. Sondern: Wie kommen wir dort hinein? Es geht um ein Mit-Sein.
Vielleicht liegt er ja schon bereit, der Wegeplan zur Kneipe an der Ecke. Wo das Gespräch am Tresen zur Seelsorge werden kann. Oder für Gleis 8, wo Menschen unterwegs einander Lebenswege anvertrauen. Oder zum Friseur, wo Lebensbeichten den Weg ins offene Ohr finden.
Wo auch immer: An den Andersorten geht es um mehr als ums Spitzenschneiden. Es geht ums Anders-Kirche-Sein. Eine Anderskirche. Wie sagt Rilke so schön: „Du musst dein Ändern leben!“