Heike Radke ist Militärpfarrerin im litauischen Rukla

"Meine Rolle ist, Zeit zu haben"

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Heike Radke steht am Altar bei einem Gottesdienst mit Soldaten
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Foto: Markus Nowak

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Gemeinsames Gebet: Militärpfarrerin Heike Radke mit Soldaten an der Ostflanke der Nato in Litauen

Im litauischen Ort Rukla sichern Soldaten aus acht Nationen die Ostflanke der Nato. Die Militärpfarrerin Heike Radke spricht mit ihnen über kleine und große Sorgen, über Heimweh und die Angst vor einem russischen Angriff. Und manchmal über Gott.

Jeden Sonntag wenige Minuten vor sieben Uhr abends erklingt in Rukla, eine Autostunde von der litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt, eine Glocke vor der Little Church. Geklingelt wird per Hand, und auch der Glockenturm ist mit gerade zwei Metern alles andere als hoch. Mitten in der litauischen Provinz wird zum sonntäglichen Gottesdienst in deutscher Sprache geläutet: Nun sitzen rund ein Dutzend Männer und Frauen beim Gebet in dem grauen Container-Haus – in Feldanzügen statt im Sonntagsstaat.

Hier an der Nato-Ostflanke in Litauen führt die Bundeswehr eine 1500 Soldatinnen und Soldaten starke Kampfgruppe aus acht Nationen. 800 deutsche Militärangehörige sind in Rukla stationiert und leisten für jeweils ein halbes Jahr im Rotationsprinzip ihren Dienst. Seelsorgerisch betreut werden sie während einer Rotationsrunde jeweils drei Monate von katholischen Militärpfarrern und evangelischen Geistlichen. „Es hat sich eine kleine Gottesdienstgemeinde gebildet“, sagt Heike Radke (61) vom Bundeswehrstandort Stadum, derzeit Militärpfarrerin in Rukla.

„Man ist als Militärpfarrerin für alle da“, sagt sie. Zu den Gebeten kommen neben evangelischen und katholischen Soldatinnen und Soldaten auch nichtgläubige Militärangehörige, erzählt Radke. „Das spielt keine Rolle“, sagt sie – und ist froh darüber. Zumal der größte Teil der Soldaten aus Mecklenburg-Vorpommern stammt, wo Christen in der Minderheit sind. Dennoch herrsche keine Berührungsangst, sagt Radke. „Die Soldaten kommen nicht direkt zu uns“, beobachtet die Seelsorgerin. Unterhaltungen entstehen, wenn sie selbst durch die Kompanien und Abteilungen geht.

„Es ist schön, wie schnell eine Gemeinschaft wächst“

„Ich erlebe eine große Offenheit oder Interesse für das Thema Religion“, sagt sie. Aber in der Regel gehe es in den Gesprächen um die zuweilen belastende Situation in Litauen, fern des Heimatstandorts. Vor allem Heimweh spielt eine Rolle. „Und die ganze Bandbreite an menschlichen Problemchen und Problemen gibt es“, berichtet die Militärseelsorgerin, die zum psychosozialen Netzwerk am Standort gehört. Zusammen mit einer Psychologin ist sie Ansprechpartnerin der Soldaten – mit Schweigepflicht, versteht sich. „Meine Rolle ist, Zeit für die Menschen zu haben. Alles andere ergibt sich dann.“

Ratgeber, wie Fernbeziehungen gelingen können, oder Kinderbücher zum Auslandseinsatz stehen im Regal der Little Church, wie das Gebäude der Militärseelsorge genannt wird. Der linke Teil ist mit einem Altar und einem Ambo versehen. Hier wird sonntagmorgens auch ein kroatischer und ein niederländischer Gottesdienst gefeiert. Im rechten Teil gibt es bequeme Sessel, einen Fernseher und Musikinstrumente. Nach dem Gottesdienst trifft sich die Gruppe hier zu einem gemütlicheren Zusammensein, als das etwa in der Truppen-Kantine möglich ist.

Die Baracke dient als Kirche auf dem Militärgelände
Wertvoller Treffpunkt: die Little Church in der Kaserne in Rukla, in der eine 1500 Soldatinnen und Soldaten starke Kampfgruppe lebt. Foto: Markus Nowak

Unter den Gottesdienstbesuchern, die hinterher noch in kleiner Runde plaudern, ist Oberstabsgefreiter Lleoth. „Auch wenn man weiß, dass man sich im Regeldienst in Deutschland nie wieder sieht, ist es schön zu sehen, wie schnell eine Gemeinschaft wächst“, sagt er. Man könne dienstgradübergreifend „aus dem militärischen Leben hinaus kurz in die Welt eintauchen“. In eine Welt, die außerhalb der Kaserne von Rukla in einer alles andere als friedlichen Region liegt – obwohl Litauen Nato- und EU-Mitglied ist. Litauens Nachbar Russland führt seit fast anderthalb Jahren einen Angriffskrieg in der Ukraine, und die Nato hat schon 2017 im Zuge der russischen Krim-Annexion und des Krieges im Donbas mit der Verlegung von Soldatinnen und Soldaten nach Polen und in die baltischen Staaten begonnen.

Die Mission „Enhanced Forward Presence“ dient der Sicherung der Nato-Ostflanke. Auch um diese Gefahr gehe es bei den Gesprächen in der Runde, sagt Stabsgefreiter Tobias (27). „Natürlich schwingt es immer mit, dass wenn es ernst wird, man hier in er ersten Reihe steht. Aber ich sehe da meine Pflicht als Bürger darin, die Menschen, die mit mir Werte teilen, zu unterstützen und zu beschützen. Denn genau das machen wir in Litauen.“

„Die Bevölkerung hier ist ein gutes Stück dankbar“

Pfarrerin Radke bemerkt, wie positiv die Bundeswehr in Litauen aufgenommen wird. „Die Bevölkerung hier ist ein gutes Stück dankbar, dass die Soldatinnen und Soldaten hier sind“, sagt die Militärpfarrerin, die bis Anfang August im litauischen Rukla dient. Eine Rückkehr für eine weitere Rotation kann sie sich gut vorstellen.

Bald könnte auch die Option bestehen, noch länger dazubleiben. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) kündigte bei einem Besuch unlängst an, 4000 weitere Soldatinnen und Soldaten langfristig an die Ostflanke nach Litauen zu verlegen. Deutschen Militärseelsorgern geht die Arbeit in Litauen also nicht aus. Und vielleicht wird sogar irgendwann mal die Glocke vor der Little Church elektrifiziert.

Markus Nowak