Buch „Erzählen als Widerstand“

Missbrauch geht alle an

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Mit dem Buch „Erzählen als Widerstand“ wird das Schweigen gebrochen: Auch erwachsene Frauen wurden und werden in der Kirche missbraucht. 23 von ihnen kommen zu Wort. Was sie zu sagen haben, schockiert und wirft Fragen auf. Ruth Lehnen im Gespräch mit Dr. Regina Heyder, die das Buch mit herausgegeben hat.

 

Frage: Frau Heyder, im Buch „Erzählen als Widerstand“ lesen wir die Zeugnisse von erwachsenen Frauen, die isoliert und gedemütigt werden, die manipuliert und missbraucht, die vergewaltigt werden. Warum haben sich die Frauen nicht gewehrt?

Regina Heyder: Missbrauch ist eine traumatische Erfahrung, die das Reaktionsschema „fight or flight“ („Kampf oder Flucht“) außer Kraft setzt. In der traumatischen Erfahrung kann man sich nicht wehren. Die Frauen schildern, dass sie sich fühlen wie gefroren, sie können nicht schreien. 

Missbrauch wird lange angebahnt. Dabei werden die Betroffenen isoliert, und der spätere Täter ist oft die Hauptbezugsperson, derjenige, bei dem die Frau das Gefühl hat, sich aussprechen zu können. Wenn es dann zu den Übergriffen kommt, ist eine große Angst da: „Ich bin ganz allein, ich verliere diesen Menschen, ich verliere alles!“ Es ist zudem auffällig, dass die Frauen sehr vertrauensselig sind. Sie glauben bis zum Schluss: „Ein Pater macht so was nicht!“ Und das hängt mit der Autorität zusammen, die dem Priester in der Kirche immer wieder zugeschrieben wurde. Dagegen das eigene Gewissen, das eigene Gefühl zu stellen und zu sagen: „Ich bin autonom“, ist sehr schwierig. Dazu kommt, was die Frauen mehrfach schildern: „Niemand würde mir das glauben.“

Wann und wie kann der Missbrauch beendet und überwunden werden?

Es wird in Institutionen leider immer Missbrauch geben. Nur wenn Missbrauch öffentlich wird, können wir etwas dagegen tun. Und das ist auch eine Funktion dieses Buches: Es gibt jetzt diese 23 Berichte, und dadurch entsteht eine Erzählgemeinschaft. Die Frauen merken, dass sie kein Einzelschicksal haben. Für VertreterInnen der Institution wird es schwieriger, die Glaubwürdigkeit von Frauen und den Tatbestand von Missbrauch an erwachsenen Frauen in Frage zu stellen. Nach diesem Buch kann niemand mehr sagen: „Das gibt es nicht.“ Das ist das Neue an dem Buch. Weder im interkonfessionellen noch im internationalen Vergleich gibt es bisher etwas Vergleichbares. Auch nicht im säkularen Bereich. 

Das Gemeinschaftsstiftende unter den Autorinnen und auch unter uns Herausgeberinnen ist die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. Was die Frauen geschrieben haben, haben sie im Blick auf diese Zugehörigkeit geschrieben, und genau dort soll es Wirkung entfalten. 

Soll die Wirkung sein: Es muss jetzt Schluss sein mit dem Tabu des Missbrauchs?

Als vor Jahren Doris Reisinger (Wagner) ihr Buch „Nicht mehr ich“ geschrieben hat, da wurde das Geschilderte als Einzelschicksal verstanden. Aber was Reisinger und was die Frauen in unserem Buch schildern, ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Thematik des Missbrauchs wird in der katholischen Kirche bisher sehr stark mit Blick auf Jungen und männliche Jugendliche verhandelt. Aber es gibt diesen Missbrauch an den erwachsenen Frauen, und den möchten wir sichtbar machen. Die Taten sind wirklich entsetzlich und die Kirche kann nur glaubwürdig sein, wenn sie sich dem auch stellt. Die Arbeit an dem Buch hat auch uns verändert. 

Wie hat diese Arbeit Sie verändert?

Für mich sind Betroffene und das Geschehene viel, viel näher gerückt in dem, wie ich Kirche denke. Ich möchte nicht mehr so tun, als wären die Betroffenen immer die anderen, als wäre die Kirche ein Subjekt, das sich den Betroffenen zuwendet. Nein, Betroffene sind selbstverständlich Kirche und die Taten gehen alle an. Wir hatten anfangs Angst, was passiert, wenn wir diese Stimmen öffentlich machen. Später hatten wir Angst, dass nichts passiert. 

Die Betroffenen sind Kirche und die Täter/innen sind auch Kirche. Und manchmal ist es auch so, dass aus der Kirche – und auch aus der Heiligen Schrift – die Kraft kommt, Missbrauch zu überleben.

Es ist ganz eindeutig, dass Geistliche Begleitung zum spirituellen Missbrauch werden kann und dass Geistliche Begleitung genauso die Ressource sein kann, den Missbrauch zu überwinden. Das Gleiche gilt für die Bibel: Es gibt Bibelstellen, die die Betroffenen als unerträglich empfinden und gleichzeitig gibt es Hoffnungstexte. Und das ist für jeden und jede unterschiedlich. 

Mit diesem Buch wird deutlich, dass es große Schritte geben muss in Richtung einer spirituellen Selbstbestimmung der Gläubigen. Wenn wir mit diesem Buch diese Freiheit stärken könnten, dann wäre das schön. Zudem ist das Buch selbst insofern „Kirche“, als es „zuhört“ und die Autorinnen ernst nimmt. 

Wenn jetzt jemand das liest und sich dann ermutigt fühlt, die eigene Geschichte zu protokollieren, wohin kann sie sich wenden?

Professorin Ute Leimgruber, eine der Mitherausgeberinnen, plant ein Forschungsprojekt zu diesem Thema. Dort werden künftige Berichte ihren Platz finden. 

Es gibt in allen Bistümern Ansprechpersonen für Missbrauchsfälle. Zudem soll es in Kürze seitens der Deutschen Bischofskonferenz eine Anlaufstelle für betroffene Frauen geben, und zwar als Online-Beratungsstelle bei der Frauenseelsorge. 

Letztlich müssen sich Frauen fragen, wozu sie ihre Geschichte erzählen: Um für sich selbst Klarheit zu gewinnen; um TäterInnen zu verfolgen; um zu dokumentieren, was ihnen angetan wurde. Dadurch entscheidet sich, an wen sie sich wenden.

Was im Buch auch geschildert wird, ist, dass der narzisstische Missbrauchstäter sich als einfühlsamer Seelsorger darstellen kann. Und dass die Frauen häufig „Vorverletzungen“ erlitten haben. Die Opfer werden gezielt ausgesucht. 

Ja, manche haben Missbrauchssituationen als Kinder erlebt, und Täter nutzen dies aus. Manchmal ist es eine schwierige Lebensphase, die verletzlich macht, zum Beispiel die Trauer um Familienangehörige. Ordensfrauen im Buch berichten von Überarbeitung und körperlicher Erschöpfung. Daran knüpft der Täter an. Er erschleicht sich Vertrauen, er testet, wie weit er gehen kann. Das ist das sogenannte Grooming.

Welche Forderung ergibt sich aus dem Buch in Bezug auf Klerikalismus und die Rolle des Priesters?

Priester, aber auch SeelsorgerInnen müssen ihre Rolle professionell reflektieren, sie müssen wissen, dass sie in einer seelsorgerlichen Beziehung sind, in der sie die Verantwortung tragen. Und da darf es keine sexuellen Beziehungen geben, das ist das Gleiche wie bei Psychotherapeuten. Das muss nicht nur vorausgesetzt, sondern ganz klar ausgesprochen werden. Diese Seelsorgebeziehungen sind auch immer Machtverhältnisse, es sind asymmetrische Verhältnisse. Denn auf der einen Seite ist eine Person, die sehr viel von sich preisgibt, und auf der anderen ist der/die BegleiterIn. Was wir in den Erzählungen auch sehen: Weder für Betroffene noch für TäterInnen gibt es Schubladen. Missbrauch geschieht dort, wo die Moral der katholischen Kirche rhetorisch hochgehalten wird, Missbrauch passiert genauso dort, wo Priester liberal sind. Missbrauch kann überall passieren. 

Welchen Warnhinweis würden Sie Frauen geben?

Ich habe noch nie in meinem Leben so oft das Wort „verwirrt“ gelesen wie in diesen Berichten. Sich selber und dem eigenen Empfinden und Gewissen zu vertrauen ist das, was Missbrauch am ehesten verhindert. Und mit einer Freundin sprechen.

 

Interview: Ruth Lehnen      
https://www.erzaehlen-als-widerstand.de/

Dr. Regina Heyder ist Dozentin des Theologisch-Pastoralen Instituts in Mainz und ehrenamtlich Vorsitzende der Theologischen Kommission des Katholischen Deutschen Frauenbunds (KDFB). Sie arbeitet wissenschaftlich als Historikerin.

Buchhinweis: Barbara Haslbeck, Regina Heyder, Ute Leimgruber, Dorothee Sandherr-Klemp (Hg.): Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, 272 Seiten, Aschendorff Verlag, Münster, 20 Euro

Zur Sache (Aktualisierung): Eine zentrale Anlaufstelle für Frauen, die als Erwachsene Gewalt im kirchlichen Raum erfahren haben, bietet die Deutsche Bischofskonferenz an. Diese Erst-Anlaufstelle ist über die Internetseite www.gegenGewalt-anFrauen-inKirche.de erreichbar und ermöglicht betroffenen Frauen kostenlose und anonyme Beratung nach geistlichem und/oder sexuellem Missbrauch in kirchlichen Kontexten einschließlich der Orden. Getragen wird die Anlaufstelle von der Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz. Alle Anliegen können auch per Brief an die Postadresse der Arbeitsstelle für Frauenseelsorge (Anlaufstelle für Frauen, c/o Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz, Carl-Mosterts-Platz 1, 40477 Düsseldorf) gesendet werden. (dbk)

 

 

 

 

 

 

 

 

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Ruth Lehnen