Missbrauch im Norden
Auch im Raum des Erzbistums Hamburg haben Priester von 1946 bis 2015 Kinder missbraucht. 33 beschuldigte Täter hat die jüngste Erhebung ergeben. Auffällig sind regionale Unterschiede.
Die Daten, die vom Erzbistum Hamburg in die Missbrauchsstudie der Deutschen Bischofskonferenz eingespeist wurden, liefern konkrete Zahlen für den Norden. 33 Priester werden als „ermittelte beschuldigte Priester“ angeführt. Betroffen waren 103 Kinder und Jugendliche. Zwei Priester wurden gerichtlich verurteilt, für zwei weitere, deren Taten strafrechtlich verjährt waren, hat es kirchenrechtliche Verfahren gegeben. Danach darf einer seinen priesterlichen Dienst nicht mehr selbstständig öffentlich ausführen, der zweite muss aus seiner Pension Beiträge an Opfer zahlen.
Am Dienstag, noch während der Bischofskonferenz in Fulda, informierten Generalvikar Ansgar Thim, die Leiterin der Fachstelle Kinder- und Jugendschutz Mary Hallay-Witte und Diözesanarchivar Martin Colberg die Presse über die bisherigen Erkenntnisse. „Bisherig“, denn die Aufarbeitung soll weitergehen. „Die dunklen Schatten solcher Straftaten müssen an die Öffentlichkeit“, sagte Generalvikar Thim. „Die Studie kann dafür nur der Anfang sein.“ Und er rechne auch für den Norden mit einer „Dunkelziffer“.
660 Personalakten hat Diözesanarchivar Martin Colberg durchforstet. Solche nämlich, die Hinweise auf mögliche Täter enthielten. Eine Besonderheit des Nordens: Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg waren bis zur Gründung des Erzbistums Hamburg Teil des Bistums Osnabrück, Mecklenburg hatte während der DDR-Zeit faktisch eine kirchliche Eigenständigkeit. Die Hamburger gehen davon aus, dass Missbrauchs-Priester früher gezielt in den Norden „strafversetzt“ wurden.
Täter wurden an die Ränder „strafversetzt“
Ein Ergebnis der Untersuchungen ist laut Generalvikar Thim, „dass es im damals zuständigen Bistum Osnabrück und auch in der Administration für Mecklenburg zu Zeiten der DDR eine Versetzungspraxis gegeben hat, offenkundige Täter ohne Verfahren zu versetzen. In den Akten konnten wir Wechselwirkungen insofern feststellen, dass damals im Bistum Osnabrück beschuldigte Priester in nördliche Regionen versetzt wurden.“
Unter den 33 „beschuldigten“ Priestern sind 17 aus Hamburg und Schleswig-Holstein, 16 aus Mecklenburg. Martin Colberg hat Taten in den Gemeinden Waren, Graal-Müritz, Dömitz, Grevesmühlen, Wittenburg und Tessin ausfindig gemacht. „In Mecklenburg waren diese Fälle immer mit schwerer physischer und psychischer Gewalt verbunden“, sagte Mary Hallay-Witte.
Das gilt auch für den mittlerweile bekanntesten Missbrauchsfall, der dem Neubrandenburger Pfarrer Hermann-Josef Timmerbeil (+1979) zur Last gelegt wird. Für diese Angelegenheit will das Erzbistum im Oktober nun eine eigene Aufarbeitung mit externen Gutachtern beginnen. Das hatte Erzbischof Heße bereits Anfang September angekündigt.
Wie der Neubrandenburger Pfarrer Timmerbeil leben die meisten Missbrauchstäter heute nicht mehr. Auch die einst gängige Praxis, die Priester nur an einen anderen Ort zu versetzen, ist Vergangenheit. „Wer beschuldigt wird, wird heute sofort aus dem Dienst herausgenommen“, versicherte Generalvikar Ansgar Thim. Er war 2010, als mit dem Berliner Canisius-Kolleg die Aufklärungswelle begann, Personalreferent des Erzbistums. „Ich habe seither mit sehr vielen Opfern und Tätern gesprochen. Diese Gespräche haben mich sehr erschüttert, auch geprägt und verändert.“ Seither hat sich im Bistum viel getan. 50 Betroffene haben zusammen 256 000 Euro an „Anerkennungsleistungen“ erhalten.
Heute gibt es ein großes Präventionssystem
„Als erstes Bistum haben wir eine Fachstelle Kinder- und Jugendschutz gegründet“, sagt Mary Hallay-Witte. Es gibt nicht nur Präventionsordnungen, Selbstverpflichtungen aller Mitarbeiter und ein Netzwerk von externen Fachberatern. Insgesamt seien in acht Jahren 12 000 Mitarbeiter in der Missbrauchsvorbeugung geschult worden. Die letzten „Lücken“ des vorhandenen Präventionssystems würden jetzt geschlossen. „Jede Einrichtung soll ein eigenes Schutzkonzept haben.“
Diese Maßnahmen greifen, sind sich die Bistumsmitarbeiter sicher. Auch ihnen ist klar: Selbst die beste Vorbeugung kann weitere Verbrechen nicht ausschließen. „Aber das Ziel ist klar: Kinder und Jugendliche müssen die Kirche als einen sicheren Ort erleben. Wir müssen alles dafür tun, dass sie nicht Opfer sexuellen Missbrauchs werden.“
Text: Andreas Hüser