Sabine Erath berät Demenzkranke und deren Angehörige

Mit der Krankheit leben lernen

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Sabine Erath berät Demenzkranke und ihre Angehörigen, wie man mit der Krankheit leben kann. Sie spricht sich für einen offenen Umgang mit dem Thema aus. Ihre Motivation bezieht sie auch aus ihrem Glauben.

Demenzberaterin Sabine Erath in ihrem Garten.    Foto: Stefan Schilde

 

Mitten in der Nacht wacht der Mann plötzlich auf und weckt seine Frau. Er ist aufgebracht, ruft: „Steh auf, wir müssen packen, wir müssen los, in einer Stunde müssen wir auf dem Platz sein!“ Er wähnt sich auf der Flucht, wie damals als Kind, als er mit seiner Familie aus seiner früheren Heimat vertrieben wurde. Seit der Krieg in der Ukraine offen ausgebrochen ist, sieht er im Fernsehen täglich die Bilder fliehender Menschen. Dabei hatte er seine Erinnerungen an die Vergangenheit sorgfältig verschlossen, sein ganzes Leben lang nicht darüber gesprochen. Dass dies nun anders ist, liegt an der Krankheit, die ihn als über 80-Jährigen ereilt hat: spät beginnender Alzheimer, die häufigste Form der Demenz.
Als Demenzberaterin hilft Sabine Erath Erkrankten und ihren Angehörigen dabei, mit solchen Situationen fertig zu werden. „An der Stelle der Ehefrau wäre ja naheliegend zu sagen: Ach, wir müssen nirgendwohin. Beruhige dich und leg dich wieder schlafen“, erklärt sie. Darauf zu verweisen, führe in aller Regel aber nicht zur Klärung. „Im Gegenteil: Ein solcher Widerspruch kann den Betroffenen noch mehr verwirren und sogar zu heftigen Abwehrreaktionen führen“.

Validation bedeutet Anerkennung
Deshalb hat sie ihrer Klientin empfohlen, sich auf die Situation einzulassen. „Man könnte fragen: ‚Was ist denn los, was sollen wir tun?‘ Vielleicht sogar vorgeben, die Tasche zu packen. Dabei mit möglichst behutsamer, einfühlsamer Stimme sprechen, auch wenn es in dem Augenblick nicht einfach ist.“ Irgendwann, so die Demenzberaterin, komme der Moment, an dem sich Atmung und Stimme des Erkrankten wieder beruhigen. „Dann kann man als Partnerin auch fragen: ‚Wollen wir wieder zu Bett gehen?‘“
Ein solcher Umgang mit demenztypischen Situationen fußt auf dem Validationskonzept. „Validation ist eine spezielle, von der amerikanischen Wissenschaftlerin Naomi Feil ausgearbeitete Methode, um mit Demenzkranken zu kommunizieren“, sagt Sabine Erath. Der Ansatz sehe vor, Äußerungen und Verhalten Demenzkranker für gültig (engl. „valid“) zu erklären, also anzunehmen, anstatt zu korrigieren. „Die Krankheit lässt unter anderem Erinnerungen aus früheren Lebensabschnitten, die vorher unterdrückt worden sind, wieder aufkommen. Im Alter will der Mensch Unerledigtes zu Ende bringen und so seinen inneren Frieden finden.“
Während sie erzählt, versucht Sabine Erath das Wort „Demente“ zu vermeiden, spricht lieber von „Desorientierten“. „De-ment bedeutet übersetzt: ohne Geist, ohne Verstand. Das sind die Erkrankten aber nicht. Die Menschen sind manchmal desorientiert, gedanklich in einer anderen Zeit unterwegs. Aber ihre Wahrnehmung funktioniert immer noch sehr gut, sie bekommen viel mehr mit als man denkt.“ Zudem, so die Beraterin, würden die Menschen durch den Begriff „Dementer“ auf ihre Krankheit reduziert, die Wertschätzung für die Lebensleistung der Erkrankten bleibe auf der Strecke.
Betroffenen mit Wertschätzung zu begegnen, ist der von der Schwäbischen Alb stammenden Katholikin wichtig. „Ich arbeite gern mit Menschen, möchte für sie da sein“, sagt sie. Das führt sie auch auf ihre christlichen Überzeugungen zurück, die ihr als junges Mädchen von ihrer Famlie, vor allem von ihrer Mutter, vorgelebt worden seien.
Ob die Validationsmethode im Grunde einen christlichen Kern enthält? Sabine Erath findet, ja: „Es geht darum, den Menschen so anzunehmen, wie er ist. Wir schauen also mit den Angehörigen: Was will der Betroffene mit seinem Verhalten sagen, was braucht er, welche Bedürfnisse hat er?“ Das sei für sie gewissermaßen praktizierte Nächstenliebe. Es gehe um Akzeptanz, Selbstwertgefühl und Würde.
Dabei wisse sie auch, was eine Demenzerkrankung vor allem den direkten Angehörigen abverlangt. „Sie sind rund um die Uhr gefordert, müssen immer aufmerksam sein, und das jeden Tag. Ich ziehe da wirklich den Hut.“ Durchaus aufmunternd gemeinte Sprüche auf der Familienfeier unter dem Motto: „Mensch, die Krankheit merkt man ihm ja gar nicht an“, seien für unmittelbar betroffene Angehörige daher alles andere als hilfreich.
Einen wirklichen Vorwurf könne sie aber niemandem machen. „Obwohl unsere Gesellschaft immer älter wird, wissen noch immer viele Leute sehr wenig über die Krankheit“, sagt Sabine Erath. Deshalb hat sie das „Demenznetzwerk Oberlausitz“ ins Leben gerufen, informiert auf Infoabenden über Krankheit und Behandlungsmöglichkeiten, will Demenz aus der Tabuzone holen. „Viele haben Angst vor dem Thema, denken, mit der Krankheit sei mehr oder weniger alles vorbei. Doch das ist ein Trugschluss. Wenn man die Krankheit frühzeitig diagnostiziert, können Ehepaare noch einige Jahre halbwegs normal zusammen leben.“
Sie geht auch in Pflegeeinrichtungen, stellt dort dem Personal Handlungsweisen im Sinne der Validation theoretisch und praktisch vor. Von der Methode könne die Pflege demenzkranker Menschen profitieren, meint Sabine Erath. „Zu Beginn dauert manches vielleicht etwas länger. Man muss mehr reden, mehr erklären, das ist ungewohnt, manche behaupten: in der Praxis nicht umsetzbar.“ Sie werbe aber dafür, sich darauf einzulassen, zu versuchen, aus den eigenen Schuhen herauszutreten und in die des anderen zu steigen. „Mit etwas Geduld klappt es, und das kostet die Pflegekräfte dann künftig deutlich weniger Zeit, Kraft und Nerven.“ Dass dann auch weniger Medikamente nötig seien, empfindet die Beraterin als wichtigen Nebeneffekt.

Glaube half anzukommen und neu zu beginnen
Fast drei Jahrzehnte ist es her, dass die 53-Jährige mit ihrem Ehemann, von Beruf Bankenprüfer, in die Oberlausitz unweit der deutsch-tschechischen Grenze gekommen ist. „Mein Mann sollte hier in der Gegend eine Bankenfusion begleiten. Danach sollte es eigentlich wieder zurück ins Ländle gehen. Aber wir fühlten uns wohl und sind hier geblieben“, sagt Sabine Erath.
Dabei war der zweifachen Mutter der Wiedereinstieg ins Berufsleben schwergefallen. „Ich war früher Familienberaterin, aber es gab hier wenige Stellen und ich kannte kaum Leute. Natürlich bin ich Leuten begegnet, fand aber erst mit niemandem eine echte gemeinsame Ebene.“ Die Situation habe ihr so zugesetzt, dass sie sich an Gott wandte: „Herr, ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann, mit dem es passt.“ Sie fasste den Entschluss, ins Frauenzentrum in Löbau zu gehen. „Ich dachte, da sind vielleicht andere Leute als auf dem Spielplatz.“ Und tatsächlich fand sich eine andere Frau, der es ähnlich ging und die ebenfalls auf der Suche nach Gleichgesinnten war. „Wir sind Freundinnen geworden. Die Verbindung besteht heute noch.“
Auch beruflich ging es wieder aufwärts. Sie arbeitete erst als telefonische Beraterin, später als Tagespflegerin. „Dabei bin ich auch mit dem Thema Demenz in Berührung gekommen und habe festgestellt, dass man als Pflegekraft eigentlich nicht genug weiß, um mit manchen Situationen umgehen zu können“, sagt Sabine Erath. In einem Kurs wurde sie auf die Validationstherapie aufmerksam und war überzeugt – trotz Vorbehalten in Teilen der Fachwelt. 2014 begann sie mit der Ausbildung zur Validationslehrerin.
In ihrer Kirchengemeinde Ebersbach-Neugersdorf, seit 2017 Teil der Pfarrei  Leutersdorf, fühlt sie sich wohl. „Wir sind eine schöne Gemeinschaft. Ich gehe gern in die Kirche und höre die Predigten. Die Beschäftigung mit dem Wort Gottes ist mir wichtig, auch was Leute mit theologischem Wissen sagen“, sagt sie. Ihr Glaube helfe ihr auch dabei, die Grenzen der Möglichkeiten ihrer Arbeit zu akzeptieren, sich nicht hineinzusteigern und ein „Helfersyndrom“ zu entwickeln.  
Und die vielen Negativschlagzeilen über Missbrauch und andere Missstände in der Kirche? „Die Kirche besteht aus Menschen, und Menschen sind fehlerhaft. Das ist keine Entschuldigung für bestimmte Dinge“, sagt Sabine Erath. Sie stelle jedoch fest, dass viele Menschen auf der Suche seien. „Unsere Kernbotschaft ist die Nächstenliebe. Der Mensch im Mittelpunkt – wenn sich jeder darum bemüht, ist das doch eine kraftvolle, tolle Botschaft.“

Von Stefan Schilde