Eine besondere Prozession in Thüringen

Mitgehen, mitfühlen

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Sie war Teil der Gegenreformation, hat Diktaturen überstanden und findet auch dieses Jahr statt: Die Palmsonntagsprozession in Heiligenstadt ist mehr als eine Tradition. Junge und alte Menschen tragen ihre Hoffnung auf die Straße.

Foto: imago/epd
Tausende Menschen gehen mit oder stehen am Rand. Die Darstellung des letzten Abendmahls ist das erste der sechs Bilder der Prozession. Foto: imago/epd

Von Barbara Dreiling

Es ist Palmsonntag, genau 14 Uhr. Die Blaskapelle beginnt mit dem ersten Lied und die Gespräche vieler Tausend Menschen verstummen für die nächsten zwei Stunden. Sie schlagen ihr kleines Liedheft auf, das manchmal schon viele Jahre alt ist und das sie jedes Jahr zur Leidensprozession am Palmsonntag mitbringen. Sie gehen mit der Prozession oder stehen am Rand und singen im Wechsel mit der Blaskapelle die Strophen der Passionslieder.

Gehen, schweigen, mitsingen, kurz stehen, bis es weitergeht – die Prozession ist ein Gottesdienst auf einer Strecke von anderthalb Kilometern durch die Innenstadt von Heilbad Heiligenstadt. Was denkt und fühlt man, wenn man da mitgeht? „Man ist dann mit Jesus“, sagt Jenny Schabacker. „Wir erzählen da auch nicht irgendwas, wir gehen da einfach mit, dass wir uns besinnen können“ und „dass wir in Gemeinschaft unseren Glauben leben können“, sagt die 36 Jahre alte Bürokauffrau.

Die Gemeinschaft, das sind Schätzungen zufolge 8000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Heiligenstadt und den Dörfern im Eichsfeld. Jenny Schabacker geht seit zwölf Jahren zur Palmsonntagsprozession, seit sie mit ihrem Mann in Heiligenstadt wohnt, und nimmt auch ihren siebenjährigen Sohn Noah mit. Für ihn sucht sie nach kindgerechten Worten, um die Darstellungen aus der Leidensgeschichte Jesu erklären zu können.

Seit 1638 ist die Prozession bezeugt

Im Prozessionszug werden sechs lebensgroßen Bilder mitgetragen. So heißen die Figuren, die Jesus in den letzten Momenten seines Lebens zeigen: Jesus mit dem Abendmahlskelch, der betende und vor Angst Blut schwitzende Jesus am Ölberg, der gefesselte und verspottete Jesus, der Gekreuzigte, der tote Jesus in den Armen seiner Mutter und der tote Leib im Grab. Von den bemalten und mit Stoff bekleideten Figuren aus Holz sind manche so alt, wie die Prozession selbst, die auf das Wirken der Jesuiten in der Gegenreformation zurückgeht. Für 1638 ist erstmals eine Leidensprozession der Jesuitenschüler am Karfreitag belegt.

Die Palmsonntagsprozession gehört zwar seit 2016 zum Immateriellen Kulturerbe, doch sie nur als Tradition zu bezeichnen, wäre zu wenig. Wenn man Menschen fragt, warum sie dorthingehen, hört man oft ein wenig Nachdenklichkeit und dann ein Glaubensbekenntnis. „Ja“, es ist „eine Besinnung“, sagt Rolf Spillner, „dass da einer war, einer ist, der vorneweg geht und dass man nicht alleine dasteht“. Jesus als jemand, der vorausgeht wie ein Vorbild. Für Rolf Spillner wirkt sich das aus, wenn er an manche Alltagsprobleme denkt, zum Beispiel mit der Gesundheit: „Da denkt man sich, der am Kreuz, der hat sicherlich viel mehr mitgemacht, als du jetzt hier mitmachen musst. Du kannst noch durchhalten.“ 

Der 35-jährige Martin Weidemann aus Geisleden ist, wie so viele, schon als Kind jedes Jahr mit seinen Eltern zur Palmsonntagsprozession gegangen. Die Figuren, die vielen Teilnehmenden – „das war schon alles faszinierend“, sagt er über die Eindrücke als Kind. Heute gehört die Palmsonntagsprozession für ihn zur Karwoche und zu Ostern dazu. Seit 2005 begleitet er den Gesang der Gläubigen mit seinem Flügelhorn in einer der Blaskapellen. Wenn sein dreijähriger Sohn ein bisschen älter ist, will er auch ihn mitnehmen und hofft, dass er auch irgendwann mal als Musiker dabei ist. Mit dem Palmsonntag beginnt für Martin Weidemann eine stillere Zeit. Er versucht, in der Karwoche zur Ruhe zu kommen, unwichtige Termine zu verschieben und ein bisschen Zeit zu haben für die Familie, erzählt er.

Das macht was mit einem

Wer zur Palmsonntagsprozession geht, trifft Bekannte, die er oder sie länger nicht gesehen hat. Herzlichkeit und Ernsthaftigkeit liegen über den Gesprächen nach der Schlussandacht. „Man geht anders auf die Menschen ein, die man trifft“, sagt Jenny Schabacker. Man ist „doch noch mal einfühlsamer“, sagt sie, wenn sie zum Beispiel eine Freundin trifft, der etwas Trauriges passiert ist. 

Wie für die Mitglieder der Blaskapellen war der Palmsonntag auch in Rolf Spillners Kalender lange ein gesetztes Datum. 36 Jahre war er einer von zwölf Trägern des Bildes vom Grab Jesu am Ende der Prozession. Mit Anzug, Zylinder und weißen Handschuhen trug er mit an dem 320 Kilogramm schweren Grab. Für ihn ein Bekenntnis zum Glauben und zu der Gemeinschaft der Gläubigen, zu der er sich zugehörig fühlte. In der ehemaligen DDR konnte so ein Bekenntnis einen hohen Preis haben, zum Beispiel den Verlust eines Studienplatzes. Rolf Spillner erinnert sich an Kommentare beispielsweise von Arbeitskollegen wie: „‚Hah, bist wieder mitgelatscht.‘ Sowas kriegte man dann auch zu hören“, sagt er.

Die Prozession ist kein Auslaufmodell

Die Aufgabe als Träger hat Rolf Spillner vor ein paar Jahren an seinen 25 Jahre alten Sohn Richard weitergegeben. Jetzt hilft er, die Bilder vor dem Palmsonntag zu schmücken und die Tragegestelle instand zu halten. Das Grab, das der Sohn jetzt an Vaters Stelle trägt, ist sehr aufwendig geschmückt, mit weißen Tüchern, schwarzem Tüll, Buchsbaum und Blumen. Unter einem gekrönten Baldachin ruht der Geschundene. Es ist das letzte Bild der Palmsonntagsprozession, doch der Schmuck deutet darauf hin, dass die Geschichte Jesu nicht im Grab enden sollte.

Und Rolf Spillner freut sich, dass er so viele junge Leute bei der Palmsonntagsprozession sieht: „Das ist immer wieder ermunternd, dass es kein Auslaufmodell ist, sondern immer noch aktuell, dass es immer wieder jemanden gibt, der weitermacht.“