„Mobil beratend in die Fläche“
Sabine Depew (55) ist neue Landesleiterin der Caritas in Schleswig-Holstein. Im Interview spricht sie über den Reiz des Landes, über Herausforderungen und Potenziale für die Caritas und die Folgen von Corona.
Frau Depew, die vergangenen drei Jahre waren Sie Vorstandsvorsitzende und Diözesancaritasdirektorin im großen Bistum Essen, jetzt haben Sie die Caritas-Landesleitung im kleinen Schleswig-Holstein übernommen. Warum?
Es stimmt schon, der Caritas-Dachverband im Bistum Essen hat mit 108 Mitgliedern und 35 000 Beschäftigten eine andere Dimension. Und diese Aufgabe abzugeben, ist mir nicht ganz leicht gefallen, weil wir als Caritas auf dem Weg waren, ein digitales Kompetenzzentrum zu werden. Tatsächlich waren es rein persönliche Gründe, die meinen Mann und mich bewogen haben, in den Norden zu kommen. Wir wollten unseren Lebensmittelpunkt schon eine ganze Weile nach Schleswig-Holstein verlegen. Nun war die Stelle ausgeschrieben und für mich ergab sich die Möglichkeit, das Berufliche mit dem Privaten zu verknüpfen.
Sie sind in Bonn geboren, haben lange dort gelebt: Was hat Sie nach Schleswig-Holstein gezogen?
Es ist ein sehr schönes Land. Wir haben hier sehr häufig Urlaub gemacht und es ist ein bisschen dieser Traum vom Haus am Meer. Außerdem gehen von hier viele Umweltinitiativen aus und die Regierungskonstellation aus CDU, Grünen und FDP finden wir attraktiv. Mein Mann ist Politikwissenschaftler und da spielt das auch eine Rolle.
Anfang Juli haben Sie angefangen. Haben Sie sich schon ein erstes Bild machen können?
Ja, ich habe fast alle Caritas-Einrichtungen besucht. Dazu will ich ergänzen, dass wir dabei sind, einen Wirtschaftsplan für die Caritas in Schleswig-Holstein zu erstellen, unterstützt durch einen kommissarisch tätigen Controller. Hierfür war es wichtig, mir einen Überblick zu verschaffen über die jeweilige Situation vor Ort. Die Caritas ist in Schleswig-Holstein ein relativ kleiner Akteur im Konzert der Wohlfahrtsverbände. Wir haben drei Altenheime und zwei Mutter-Kind-Kliniken. In Lübeck, Neumünster, Kiel und Flensburg findet Beratungsarbeit statt und wir haben ambulante Pflegedienste.
Was ist ihr erstes Fazit?
Ich muss erst einmal das Bundesland mit seinen ganzen Besonderheiten kennenlernen. Unabhängig von Caritas und Wohlfahrtsverbänden sehe ich natürlich, dass es Brennpunkte in den Ballungsräumen der Städte gibt. Aber auch in der Fläche gibt es Bedarf, zum Beispiel, wenn man an die ambulante Pflege denkt. Doch in der Fläche ist das gar nicht zu finanzieren. Da gelten ganz andere Anforderungen. Zugleich habe ich den Eindruck, dass es gerade da noch Potenzial gibt.
Die Coronakrise war und ist sicher eine Herausforderung für die Caritas-Häuser?
Ja, durch die Corona-Krise haben alle Einrichtungen gelitten. Trotz der Rettungsschirme von Bund und Land hat es die Mutter-Kind-Kliniken sehr getroffen, weil sie drei Kuren nicht belegen konnten bzw. teilweise nur zu 60 Prozent belegen konnten. Dabei sind sie darauf angewiesen, dass sie 17 Kuren im Jahr voll ausgelastet belegen, um überhaupt tragfähig zu sein. Ähnliches gilt für die Altenheime, für die ambulanten Pflegedienste und für die Beratungsdienste. Bei Letzteren musste von der persönlichen Begegnung auf telefonische Beratung, Chat-Beratung und Online-Beratung umgestellt werden. Das hat teilweise funktioniert, aber wir haben nicht die gleiche Anzahl an Menschen erreicht wie vorher.
Was bedeutet das für die wirtschaftliche Situation konkret?
Es gibt einerseits aufgrund von Corona eine finanzielle Schieflage und man muss erst einmal gucken, welche Auswirkungen das insgesamt hat. Andererseits weisen die Sozial- und Gesundheitseinrichtungen nicht nur in Schleswig-Holstein ohnehin strukturelle Finanzierungslücken auf. Sie sind selten auskömmlich finanziert. Zwar gibt es im Moment eine erhöhte Wertschätzung für Sozial- und Gesundheits- und Wohlfahrtsorganisationen. Nur, wenn der Bedarf wieder abflacht, fehlt dann auch bald wieder das Einsehen, dass es zu einer auskömmlichen Finanzierung kommen muss. Das ist die Situation, vor der wir stehen.
Üblicherweise wird in solchen Situationen mit Personalabbau und der Schließung von Häusern reagiert.
Kurzarbeit ist einige Wochen lang praktiziert worden, weil es nicht anders ging. Und aktuell sprechen wir nicht über die Schließung von Häusern. Die Auswirkungen der Coronakrise sind noch nicht gut genug zu überblicken als dass man sagen könnte, dass es diese Konsequenzen haben muss. Aber es kann aufgrund der Auswirkungen auf lange Sicht der Fall sein.
In Essen haben Sie bereits ein besonderes Augenmerk auf die Digitalisierung der Caritas gelegt. Lässt sich die Arbeit mit Menschen stärker digitalisieren?
Der deutsche Caritasverband hat vor zwei Jahren das Thema „Sozial braucht digital“ als Jahresthema gewählt. Digitalisierung kann die soziale Arbeit unterstützen. Wir sind in der Onlineberatung der deutschen Caritas insgesamt recht weit vorne auch gegenüber anderen Wohlfahrtsverbänden. In der Eingliederungshilfe und der Behindertenhilfe ist Digitalisierung inzwischen selbstverständlich, weil digitale Alltagshilfen dort sehr gut funktionieren. Und ein Altenheim kann es sich eigentlich nicht mehr leisten, kein WLAN zu haben, weil viele ältere Menschen zum Beispiel per Skype Kontakt zu ihren Enkeln halten wollen. Man muss alle Arbeitsfelder durchforsten und gucken, wo Digitalisierung Sinn macht.
Wie könnte eine stärkere Flexibilisierung und Stärkung der Arbeit in der Fläche aussehen?
Was mir vorschwebt, ist, dass man mobil beratend in die Fläche geht. Wir sind in der Beratung stark. Wir bieten nicht nur die allgemeine Sozialberatung, sondern auch Schwangerschaftsberatung, Migrationsberatung, Seniorenberatung und Krebsberatung. Da gibt es ein großes Portfolio, auf das wir zurückgreifen können. Nun könnte ein Caritas-Fahrzeug auf dem Land unterwegs sein, mal eine Stunde auf dem Marktplatz in Lütjenburg oder in Burg auf Fehmarn stehen, die Eingangsberatung übernehmen und über Social Media den Kontakt zu spezialisierten Beraterinnen und Beratern herstellen. So ließe sich eine Art digitales Beratungsnetz über Schleswig-Holstein legen.
Kirchliche Einrichtungen sind immer mehr auf das Ehrenamt angewiesen und im Bereich der Festangestellten wird es immer schwieriger, Nachwuchs zu gewinnen. Welche Akzente wollen Sie da setzen?
In Schleswig-Holstein gibt es in der Tat einen riesigen Fachkräftebedarf. Die Situation ist hier schärfer als anderswo. Das andere ist das Ehrenamtsthema. Ich will es nur skizzieren: Es gibt die Idee der Young-Caritas, die sich explizit an junge Leute richtet. Es geht darum, sie für Themen wie Umwelt und Soziales zu engagieren – unabhängig von der Idee der Caritas, aber im Sinne des Caritas-Gedankens. So lassen sich junge Menschen gewinnen, mittel- oder langfristig für so eine Organisation zu arbeiten, die gar nicht so altbacken ist, wie das Image vielleicht erscheint.
Wo steht die Caritas in fünf Jahren in Schleswig-Holstein?
Sie hat ein Profil. Ich hoffe, dass sie jung, digital und agil erscheint. Agil im Sinne, das mobile Beratung flexibel einsetzbar ist. Sie hat ein attraktives Image und sie bleibt weiterhin schlank.
Interview: Marco Heinen