Gott wischt alle Tränen ab, heißt es in der Lesung. Ein bisschen dabei helfen will Bruder Moritz

„Sie geben sich nicht auf“

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Die „große Schar“, die Johannes in der zweiten Lesung sieht, „sind jene, die aus der großen Bedrängnis kommen“. Ihnen wischt Gott die Tränen ab. Gegenwärtig denkt man da sofort an die Menschen in der Ukraine und an ihre schier unerträgliche Bedrängnis. Können sie aus der Lesung Kraft schöpfen?

Zwei Wochen war Bruder Moritz Huber Anfang März in der Ukraine. Gemeinsam mit einem Mitbruder wollte der Kapuziner aus Münster die Menschen dort unterstützen und den Geflüchteten helfen. Sie sammelten Spenden und fuhren mit einem Kleintransporter und einem 40-Tonner voll medizinischem Material nach Lwiw im Westen des Landes.

Die beiden Ordensmänner kamen dort im griechisch-katholischen Priesterseminar unter. Neben 150 Seminaristen waren in einem Nebengebäude auch viele Geflüchtete untergebracht. „Wir haben mit den Menschen dort alles geteilt: das Essen, das Gebet, den Luftschutzbunker“, sagt Bruder Moritz. „Wir sind als Fremde gekommen und nach zwei Wochen mussten wir Freunde zurücklassen.“

Seit seinem Aufenthalt sieht der 26-Jährige die Textstelle aus der Offenbarung des Johannes, die an diesem Sonntag gelesen wird, mit anderen Augen. „Johannes beschreibt in der Offenbarung das Hereinbrechen Gottes in die Welt“, sagt er. Die Lesung berichtet von einer Vision: Johannes sieht eine große Schar von Menschen, die in weißen Kleidern und mit Palmzweigen vor dem Thron Gottes stehen. Einst litten sie Not, jetzt hält Gott seine schützende Hand über sie. Wie denken Menschen darüber, die auf der Flucht vor einem brutalen Angriffskrieg sind?

Die Frage nach Gott stellt sich ganz neu

„Ich glaube, die Mehrheit der Menschen, die ich dort getroffen habe, würde aus diesem Text Hoffnung schöpfen“, sagt Bruder Moritz. „In dieser Situation in der Ukraine stellt sich die Suche nach Gott und die Frage, wie er in unsere Welt kommt, noch einmal ganz neu.“ Zu Beginn seiner Reise hatte er damit gerechnet, auf Verzweiflung, Chaos und Hysterie zu stoßen. „Aber das haben wir nicht gefunden. Die Menschen wehren sich nicht gegen die Realität. Sie nehmen den Krieg an – und sind dennoch hoffnungsvoll“, sagt Bruder Moritz. Auch mit dem Wissen, dass sich ihr Leben komplett verändert hat und dass es vielleicht nie mehr so wird, wie es vor dem Krieg war, seien die Menschen zuversichtlich. „Sie geben sich nicht auf“, sagt er.

Der Kapuziner half vor allem am Bahnhof, schmierte für die vielen Flüchtlinge dort Brote und teilte Suppe aus. Unter den Ehrenamtlichen waren selbst viele Menschen, die vor dem Krieg nach Lwiw geflohen waren und nun helfen wollten. Darunter auch eine Frau um die 50. „Sie hat viel mit den Menschen gesprochen, immer eine gute Stimmung verbreitet“, sagt Bruder Moritz. An einem Tag, als sie gerade gemeinsam Suppe austeilten, sagte sie auf einmal zu ihm: „Vor drei Tagen haben die Russen meinen Sohn erschossen.“ Sie weinte, auch ihm selbst kamen die Tränen. „Wir haben uns umarmt und dann weitergemacht“, sagt Bruder Moritz.

An einem anderen Tag fuhr er Soldaten zu einem Stützpunkt nahe Lwiw, wo am Tag zuvor bei einem Beschuss 35 Menschen gestorben waren. „Da waren sechs gestandene Männer in meinem Bus – und keiner hat ein einziges Wort gesprochen“, sagt Bruder Moritz. Die Angst sei greifbar gewesen.

Sie schöpfen Kraft aus ihrem Glauben

Er spürte aber vor allem eine große Solidarität. „Menschen haben sich freiwillig als Kämpfer für den Krieg gemeldet oder Hilfstransporte für Mariupol organisiert“, sagt Bruder Moritz. „Die setzen ihr Leben aufs Spiel. Das macht man nur, wenn man fest daran glaubt, dass es noch etwas außerhalb unseres Lebens gibt.“ Er erlebt das in den gut besuchten Sonntagsgottesdiensten und jede Nacht, wenn wieder die Sirenen heulen, die Menschen in den Bunkern Schutz suchen und intensiv beten. „Da spürt man, welche Kraft die Menschen aus ihrem Glauben schöpfen“, sagt Bruder Moritz. „Sie suchen das Heil nicht mehr in einem unbeschwerten Leben. Sie wenden sich dem Kreuz zu und finden Hoffnung im Leid.“

Manche Menschen fragen aber auch verzweifelt, wie Gott all das zulassen könne. Bruder Moritz traf einen jungen Künstler aus Odessa, dessen Freund am Abend zuvor erschossen worden war. „Er sagte mir, er habe noch nie Hass gespürt, aber nun käme in ihm dieses Gefühl hoch. Er sagte mir: ,Der Hass hat jetzt gewonnen‘“, berichtet Bruder Moritz. Dem jungen Mann habe er gesagt, dass es in Ordnung sei, Hass zu empfinden. „Schlimm wird es erst, wenn ich im Hass die Lösung sehe, wenn ich sage, dass der Hass richtig ist. Dann entsteht das Böse“, sagt Bruder Moritz. „Gott hat uns die Freiheit gegeben zu entscheiden, ob wir den Glauben an das Kreuz, das Leid und die Hoffnung annehmen oder nicht. Das entscheidet sich auf brutale Weise nun für viele Menschen in der Ukraine.“

Vor wenigen Wochen reiste Bruder Moritz erneut nach Lwiw und brachte einen Kleinbus zum Priesterseminar, damit die Helfer die Geflüchteten und Hilfslieferungen besser transportieren können. „Die Angst in der Stadt wächst“, sagt Bruder Moritz. Immer wieder schlagen Raketen ein, zuletzt auch im Bereich der Innenstadt.
 
Die Unsicherheit macht vielen zu schaffen

„Nach dem Massaker von Butscha und Gerüchten um Chemiewaffeneinsätze fragen sich die Menschen, was passiert, wenn der Krieg wirklich nach Lwiw kommt.“ Wenn nicht nur der Alarm heult und Raketen detonieren, sondern Panzer und Soldaten die Stadt umzingeln. Wenn gut 700 000 Einwohner und über 400 000 Flüchtlinge in Gefahr sind. Bruder Moritz sagt: „Viele Geflüchtete fragen sich: Wird es wieder ruhiger? Sind wir hier in Sicherheit? Oder wird es erst jetzt richtig schlimm? Diese Unsicherheit lässt viele Menschen sehr leiden.“