Caritas macht aufmerksam auf Kinder suchtkranker Eltern. Sie brauchen besondere Unterstützung.
Stimme für vergessene Kinder
Kinder leiden unter der Suchterkrankung der Eltern und übernehmen Aufgaben, die nicht ihrem Kindsein entsprechen. In einem Online-Forum hat die Caritas darauf aufmerksam gemacht und Wege zur Unterstützung aufgezeigt.
„Sucht ist eine Krankheit. Kinder sind nicht verantwortlich für die Abhängigkeit ihrer Eltern“, sagt Gisela Frank, Diplom-Psychologin und Beraterin der Caritas in Erfurt. „Das zu vermitteln ist ein wichtiger Baustein, damit Kinder, die in suchtbelasteten Familien aufwachsen, sich zu psychisch gesunden Erwachsenen entwickeln können. Der Versuch, den Konsum der Eltern zu kontrollieren, indem sie Alkohol wegschütten oder Drogen verstecken, ist ein Kampf gegen Windmühlen, den die Kinder nur verlieren können. Etwas gegen die Krankheit zu tun, ist die Aufgabe der Eltern. Aber das Tabu zu brechen und ohne Schuldgefühle über die Krankheit und die eigenen Erfahrungen reden zu können, hilft viel. Und das Erleben, „Du bist nicht das einzige Kind, dem es so geht“.
Beim Zugehen auf die Eltern ist es wichtig, ohne Vorwürfe Sorge und Anteilnahme auszudrücken und nach konkreten Hilfsmöglichkeiten zu suchen. Zum Beispiel der „Mehr-Mut-Kurs“ der Caritas Erfurt, in dem die Erziehungsfähigkeiten von Müttern mit Suchthintergrund gestärkt werden.
Gisela Frank: „Schuld und Scham empfinden die Eltern bereits genug. Auch suchtkranke Eltern lieben ihre Kinder und wollen, dass es ihnen gut geht. Doch was brauchen sie, um gute Eltern zu sein?“ Die Beraterin macht Betroffenen Mut, sich an Einrichtungen der Suchthilfe zu wenden. „Viele haben Angst, dass ihnen dann die Kinder weggenommen werden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Indem sie Unterstützung und Hilfe suchen, zeigen sie, dass sie Verantwortung übernehmen und aktiv für das Wohl ihrer Kinder sorgen.
Gemeinsam konkrete Hilfen suchen
Zusammen mit Carola Kleinau-Werner hatte Gisela Frank – beide arbeiten im Caritas-Suchthilfezentrum S 13 in Erfurt – zu einer Onlinekonferenz zur Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien eingeladen. Sie stand unter dem Motto „Vergessenen Kindern eine Stimme geben“. Jedes sechste Kind ist von Sucht in der Familie betroffen. In der Thüringer Landeshauptstadt sind das zirka 5 660 Mädchen und Jungen. Wer aber ist suchtkrank? Es gibt verschiedene Leitsymptome: Der starke Wunsch, Suchtmittel zu konsumieren; ein Kontroll- verlust bezüglich der Menge; eine Toleranzentwicklung (um den gleichen Effekt wie zu Beginn der Einnahme zu erzielen, muss die Dosis gesteigert werden); Entzugserscheinungen bei Beendigung des Konsums; der Verlust von anderen Interessen sowie ein Fortdauern des Konsums trotz eindeutig negativer Folgen. Treffen mindestens drei Punkte zu, spricht man von einer Abhängigkeit. Dann sollte eine Beratung aufgesucht werden.
Schuldgefühle, Scham und Sorge um die Eltern
Deutlich wurde in der Konferenz, dass die betroffenen Kinder ihre Eltern als instabil, unberechenbar und unkontrollierbar erleben. Zudem machen sie oft Erfahrungen von Gewalt, Misshandlungen und Missbrauch sowie von Vernachlässigung und Verlust. Die 12-jährige Nina hatte beispielsweise ihre Eltern als große Katzen gezeichnet, sich selbst als kleine Maus. Ninas Eltern waren beide alkoholabhängig. Ein Kind eines alkoholkranken Vaters sagte: „Man hat Schuldgefühle, dass man selber daran schuld ist, dass sich die Eltern streiten. Das war dann auch ganz schlimm, weil sich Mama und Papa angeschrien haben, weil Papa hat halt getrunken und ich hatte dann auch Angst.“ Dabei ist das Krankheitsbild in allen gesellschaftlichen Schichten zu finden, auch Ärzte, Rechtsanwältinnen oder Lehrer sind mit ihren Familien betroffen. Das Verhalten der Kinder verändert sich. Sie gehen nicht zu Freunden, um diese nicht selbst einladen zu müssen. Oft sind sie in Gedanken zu Hause, „was passiert dort gerade oder was wird passieren?“ Sie sorgen und ängstigen sich um ihre Eltern. Sie entschuldigen die Eltern und beschuldigen lieber sich selbst oder andere Menschen. Als Jugendliche haben sie den starken Wunsch, ihre Eltern nicht im Stich zu lassen, was ihrer Autonomieentwicklung entgegensteht.
Angesprochen wurden auch die gesundheitlichen Konsequenzen. Eine eigene Abhängigkeitserkrankung entwickeln ein Drittel der betroffenen Kinder, ein weiteres Drittel zeigt psychische Störungen, und das dritte Drittel entwickelt sich stabil. Um diese Stabilität zu ermöglichen – so Carola Kleinau-Werner und Gisela Frank in ihren Ausführungen – bedarf es Faktoren, die Resilienz zu fördern. Dazu gehören Einsicht in die Krankheitsbild der Sucht, das Erleben von Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, Stärkung der Beziehungsfähigkeit, das Entwickeln von Eigeninitiative, Kreativität und Humor, das Kennenlernen von Moral und Werten und das Finden einer stabilen Bezugsperson im Umfeld der Mädchen und Jungen. Die Kinder brauchen Ermutigung, über ihre Gefühle zu sprechen, ihre Fähigkeiten zu entfalten und Spaß zu suchen, gesunde Entscheidungen für sich selbst zu treffen, sich selbst zu achten und zu lieben.
„Was können außenstehende Erwachsene für die Kinder tun?“ Wichtig ist, sich nicht zu überfordern, sondern vorher gut zu überlegen, wie viel man leisten kann und will. Diese Begrenzung sollte dem Kind auch mitgeteilt werden, damit es nicht eine erneute Enttäuschung erlebt. Dabei hilft es, in der Begleitung ein Netz aufzubauen: Was gibt es noch für zuverlässige Anlaufstellen, Orte, wo das Kind kreativ sein kann, Erfolgserlebnisse haben, Freunde finden und Gefühle zeigen kann.
„Wen gibt es in der Schule, welcher Sport würde dir Spaß machen, welche Jugendgruppe, Kreativwerkstatt, Pfadfinder ….“ Viele Kirchengemeinden in Erfurt bieten beispielsweise in den Ferien Musicalwochen an, zu denen die Mädchen und Jungen kommen können. „Die Kinder können ermutigt werden hinzugehen. Sie sollen wissen, dass sie sich nicht verstecken müssen.“ In Erfurt gibt es speziell für Kinder aus suchtkranken Familien das Projekt „Jonathan“ oder die „Seelensteine“, in Nordhausen das „Zauberland“, in Pösneck „Regen und Sonne“, den „KidsClub“ in Hildburghausen.
Betroffene Kinder unterstützen
Gisela Frank lädt dazu ein, sich über weitere Möglichkeiten im Internet zu informieren, etwa über die „Nacoa.de“-Seite (Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V.) oder „Kompass Hilfen für Kinder von suchtbelasteten und/oder psychisch kranken Eltern in Thüringen“. („Um mehr zu verstehen, was in betroffenen Kindern vorgeht und was sie brauchen. Das gibt Sicherheit und motiviert.“) Sie können sich auch gerne an eine Suchtberatungsstelle wenden, um für den konkreten Fall ohne Namensnennung des Kindes zu überlegen, was hilfreich sein kann. „Die Suchtberatungsstellen sind für alle von Sucht Betroffenen da, die Erkrankten selbst, Angehörige, Freunde, Arbeitgeber, Nachbarn … . Auch eine Familienberatungsstelle ist ein guter Ansprechpartner“, sagt Gisela Frank. Kinder sollen spüren: „Ich interessiere mich für dich, wie es dir geht, was du fühlst, stemple dich nicht ab, wenn du mir erzählst, was zu Hause los ist. Wenn du es sagen möchtest.“ Im Affekt, ohne gute Vorbereitung, sollte die Ansprache von suchtkranken Eltern nicht erfolgen. Dabei kann viel kaputt gehen.
Von Holger Jakobi