Haitis Interimspräsident Ariel Henry zurückgetreten
Stunde Null in Port-au-Prince
Foto: imago/David Lorens Mentor
Haitis umstrittener Interimspräsident Ariel Henry ist zurückgetreten. Wie die dominikanische Zeitung "Listin Diario" berichtet, bestätigte dies Guyanas Präsident Mohamed Irfaan Ali, zugleich amtierender Vorsitzender der Karibik-Gemeinschaft Caricom, bei einer Pressekonferenz zum Haiti-Krisengipfel in Jamaika. "Wir nehmen den Rücktritt von Premierminister Ariel Henry zur Kenntnis", wird Irfaan Ali zitiert. Er kündigte eine Übergangsregelung an, die den Weg für einen friedlichen Machtwechsel ebnen soll.
Pierre Esperance, Direktor des haitianischen Menschenrechtswerkes (RNDDH), hatte zuvor der deutschen Zeitung "taz" die dramatische Lage geschildert: "Haiti ist vollständig kollabiert. Seit zehn Tagen sind alle staatlichen Institutionen geschlossen." Es gebe keine Polizei auf den Straßen. Die Polizisten weigerten sich, Dienst zu tun; sie kritisieren ihre Vorgesetzten, die nichts zum Schutz der Diensthabenden unternähmen. "Die Bevölkerung ist völlig ihrem Schicksal überlassen. Es gibt keine Nahrungsmittel, kein Wasser. Die Menschen können ihre Häuser nicht verlassen, weil die Gangs alles kontrollieren. Der Staat existiert nicht mehr. Wir befinden uns alle in Gefahr", so Esperance.
Ein Neuanfang wäre dringend notwendig: "Haiti befindet sich in einer Krise, die bisher in diesem Maße einzigartig ist", sagt Barbara Albrecht, Länderreferentin für Haiti beim kirchlichen Hilfswerk Misereor, auf Anfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Die Bevölkerung des Karibikstaates sei auf internationale Solidarität dringend angewiesen. Misereor appelliert an die karibische Gemeinschaft Caricom, die lateinamerikanischen Staaten, aber auch Europa, internationale Bemühungen um eine Befriedung des Landes und ein Ende der Gewalt tatkräftig zu unterstützen.
Auch die Haiti-Referentin des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat, Soraya Jurado, fordert ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft. Andernfalls sei es kaum möglich, gegen die mächtigen Banden vorzugehen. "Hinter ihnen stecken reiche, einflussreiche, international vernetzte Familien. Das erklärt auch, warum die Kriminellen besser ausgestattet sind als Polizei und Militär und sich die Gunst der Menschen in einzelnen Viertel mit Lebensmittelpaketen sowie Geschenken sichern können", so die Expertin.
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Eine entscheidende Rolle kommt beim Neustart wohl erneut den Vereinten Nationen zu - die allerdings in Haiti keinen guten Ruf genießen. Grund ist eine von UN-Vertretern vor Jahren eingeschleppte Cholera-Epidemie. "Die UN bräuchten in Haiti eigentlich einen Neuanfang, denn was die Vereinten Nationen normalerweise in einem solchen Fall leisten, können wir humanitären Organisationen nicht kompensieren", sagte der Mediziner Tankred Stöbe von "Ärzte ohne Grenzen" der Zeitung "Welt".
Kenia erklärte sich zuletzt bereit, eine Polizeimission nach Haiti zu entsenden. Doch die militärisch organisierten Banden wollen das nicht zulassen. Gang-Chef Jimmy "Barbecue" Cherizier hatte bereits eine Kampfansage an ausländische Kräfte geschickt, deren Präsenz naturgemäß den Einflussbereich der illegalen Gruppen beschneiden würde.
Mit Neuwahlen wäre ein erster Schritt für die demokratische Legitimation einer neuen Regierung getan; denn seit Jahren wurden Wahlen immer wieder verschoben und ausgesetzt. Das Vertrauen in die demokratischen Institutionen scheint zerstört. Das Machtvakuum nach der Ermordung von Staatspräsident Jovenel Moise 2021 hatten zuletzt immer mehr bewaffnete Banden übernommen und das Land in Chaos und Anarchie gestürzt.
Fast die Hälfte der Bevölkerung, etwa 4,9 Millionen Menschen, habe nicht genug zu essen, um gesund zu überleben, hieß es zuletzt aus UN-Kreisen. Haiti gilt ohnehin als das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Es wurde in den vergangenen Jahren von Naturkatastrophen wie Erdbeben und Wirbelstürmen erschüttert; zuletzt kam eine Cholera-Welle mit Hunderten Toten hinzu.
Auch die Kirche sieht Haiti am Rand eines Bürgerkrieges. Die Polizeikräfte seien machtlos gegenüber den bewaffneten Banden, die sich zu einer organisierten Armee entwickelt hätten, sagte Erzbischof Max Leroy Mesidor dem Hilfswerk "Kirche in Not" (ACN). In einigen Regionen hätten sich bewaffnete Bürgerwehren gebildet, um die Banden zu bekämpfen. "Es besteht die Gefahr, dass im Land ein Bürgerkrieg ausbricht", warnte der Leiter des Hauptstadtbistums Port-au-Prince und Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz. "Es sind viele Waffen in Umlauf."