„Und jetzt ist Isolde dran“

Image

Im St. Barbara-Chor der Gemeinde Geesthacht sangen vor der Pandemie fast 90 Frauen und Männer. Proben dürfen sie derzeit nicht. Dafür senden sie einander „Lebenszeichen“ per E-Mail. Wie ein Chor den Kontakt nicht verliert.

Der St. Barbara-Chor in „seiner“ Kirche in Geesthacht
Ein Bild aus besseren Zeiten: Der St. Barbara-Chor in „seiner“ Kirche in Geesthacht. Foto: privat

Hans-Dieter Zerbe fehlte irgendwie etwas: Ein Dreivierteljahr lang hatte er außer Verkaufsangeboten für ein Musikinstrument und Noten praktisch nichts von den anderen Mitgliedern des St. Barbara-Chors gehört. Der letzte gemeinsame Auftritt war am 9. Februar während der Schluss-Ves­per der St. Ansgar-Woche im Hamburger Michel; die letzte Probe fand am 5. März statt. 

Wie es wohl jedem Einzelnen so gehe, das erfuhr er nicht. „Bei diesem Gedanken kam mir die Idee, man könne doch vielleicht so eine Art Rundbrief verfassen, einer nach dem anderen“, erinnert sich Zerbe, der seit etwa zehn Jahren im St. Barbara-Chor singt. Er wandte sich an Melanie Förster, die schon 20 Jahre länger dazugehört. Sie beratschlagten sich und beschlossen, den Chormitgliedern „Lebenszeichen“ per E-Mail zu schicken.

Melanie Förster machte den Anfang und zwar passend zum ersten Advent. „Liebe Sängerinnen und Sänger des St. Barbara-Chores, nun sind wir im Advent angekommen und es ist mir ein Bedürfnis, einfach mal ein Lebenszeichen von mir zu schicken“, schrieb sie. Denn, so hieß es weiter: „Der Advent ist für den Chor immer eine besondere Zeit, denn wir bereiten uns immer auf das wichtigste und traditionellste Konzert vor – unser Weihnachtskonzert.“ Für sie selbst, so Förster, wäre es das 30. Weihnachtskonzert gewesen. „Aber wie so oft in diesem Jahr sage ich, es fällt nicht aus, es wird nur verschoben. Verschoben auf eine Zeit, in der wir alle wieder gerne zusammenkommen mögen. Verschoben auf eine Zeit, in der wir miteinander singen, aber auch quatschen, lachen, lernen, essen, trinken und andere Menschen mit unserer Musik verzaubern.“

Die Mails kamen bei den Chormitgliedern gut an

Eineinhalb Wochen später, an einem Tag, an dem eigentlich Chorprobe gewesen wäre, schrieb Hans-Dieter Zerber: „Heute müssen wir früher als sonst Abendbrot essen. Notentasche und Biergeld nicht vergessen, denn Chorprobe ist angesagt.“ Denn das waren die Worte, mit denen seine Frau donnerstags immer ein wenig zur Eile mahnte und an eine liebgewordene Tradition erinnerte. Und der Wille, den Kontakt der Chormitglieder untereinander zu stärken, der war auch bei den anderen vorhanden.

Die beiden E-Mails wurden so gut aufgenommen, dass gleich eine ganze Reihe weiterer Chormitglieder in die Tastatur griff, obwohl eigentlich erst einmal nur ein etwa vierzehntägiges Intervall angedacht war.

Jammern und klagen helfe nicht weiter. „Trotzdem ist vielen von uns klar, wie sehr das gemeinsame Musizieren fehlt, besonders, wenn nun schon so lange Zeit ‚ohne‘ verstrichen ist“, schrieb zum Beispiel eine Sängerin und schickte zur Erbauung ein plattdeutsches Gedicht aus der Feder Theodor Storms mit.

Ein Ehepaar wiederum berichtete davon, dass die Tochter mit ihrem Ehemann und Kind in München wohne, was angesichts der seinerzeit sehr hohen Infektionszahlen in der bayerischen Landeshauptstadt einen Besuch im Norden wohl ausschließen werde. „Kein Besuch, kein Konzert: Das wird uns sicher fehlen (im Konzert vor allem unser ‚Oh du fröhliche‘).“ 

Und da war die Mail eines anderen Ehepaars, welches das Jahr Revue passieren ließ und zu dem Ergebnis kam: „Trotz der besonderen Zeit war es ein gutes Jahr. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht und den Sommer genossen.“ Weiter schreiben die beiden: „Wir konnten noch an die Nordsee, mit den Kolpings nach Zarzow und die Eltern in Hohenlohe besuchen. Haben in einem mittelalterlichen Turm gewohnt. Am Neckar im Biergarten gesessen. Waren in der Heide und regelmäßig bei uns an der Elbe zwischen Tesperhude und Lauen­burg.“

Weil nicht jeder im Chor über den gesamten E-Mail-Verteiler mit allen Adressen verfügt, übernahm es Rita Schimke, die Mails weiterzuleiten. „Ich bin der Lautsprecher des Chores. Das heißt, wer eine Mail verteilen will, der schreibt sie mir“, berichtet sie. Und damit nun im neuen Jahr wohl nicht mehr so viele auf einmal ihre Gedanken in die Computertastatur schreiben, sollen die Schreibenden sich schon jeweils mit anderen verständigen, damit die dann als nächstes einen Brief auf den Weg bringen. „Und jetzt ist Isolde dran“, erläutert Rita Schimke am Telefon.

Singen wird wohl als letztes wieder genehmigt

Eckhard Schoenfeld freut sich sehr über die Aktion und hat ebenfalls schon eine Mail an alle geschrieben. „Wir sind eine sehr eingeschworene Gemeinschaft“, sagt er. „Wir sind natürlich alle sehr traurig und auch ein bisschen in Sorge, ob das überhaupt nach Corona so wird, wie es vorher war.“ 

Auch Prof. Wolfgang Hochstein, Chorleiter, Musikwissenschaftler und ehemals Dozent an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, ist nicht ohne Bedenken: „Es ist ja zu befürchten, dass das Singen als allerletztes wieder genehmigt wird.“ Doch eigentlich kann ja gar nicht so viel passieren, wenn alle mitmachen. Isolde, bitte übernehmen Sie!

Text: Marco Heinen