Anstoß 26/22

Verrückt

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Jesus als Kopf der Gemeinde, der sein Leben zur Nahrung gibt


Auf einer stillgelegten Tankstelle am Hermannplatz/Ecke Sonnenallee sitzen zwei riesengroße digitale Figuren auf dem Dach und bewegen sich in einem Zustand von Ennui (übersetzt: Langeweile). Sie sind weder aktiv noch passiv, wirken gleichzeitig jung und kräftig. Aber nichts geht mehr. Der Tank ist leer. Das Kunstwerk führt eindrucksvoll vor Augen, was es heißen kann, unter ständigem Leistungsdruck zu leben.
Tatsächlich bewegt mich die Installation. Sie legt einen gesellschaftlichen Mangel offen, mehr noch, ein Tabu mit Blick auf die Suizidrate junger Menschen. Traurige Erschöpfung, die jeden Winkel des täglichen Lebens durchdringt. Einsame Leere, Entfremdung, auch Lustlosigkeit. Da wird man im Kopf verrückt! Eine stillere Art des Verrücktwerdens.
„Kafayı yemek“, so heißt das türkisch-deutsche Motto von „48 Stunden Neukölln“. Wörtlich kann es mit „Ich esse meinen Kopf“ übersetzt werden. Klingt komisch, ist aber durchaus auch positiv gemeint. Wenn der Kopf etwa in kreativen Momenten überrascht wird, befreit, angerührt, verzückt, bewegt. „Oh mein Gott, ich drehe durch, der Himmel ist wirklich schön!“ Eine nette Art der Verrücktheit.
Unsere Pfarrei ist mit zwei Beiträgen am 48-Stunden-Programm beteiligt. Ganz passend zum Thema mit dem Stück „La Follia“– der Wahnsinn – von Arcangelo Corelli. Außerdem mit den „Kirchturmbesteigungen mit Kalle Lenz“ in St. Christophorus. Ob bei den Konzerten oder an den Kirchturmglocken: Das Publikum ist tief beeindruckt! Es scheint, dass unter dem Kirchendach noch eine Dimension spürbar ist, ein Geist, der den Kopf positiv verrückt. Die Gäste und Besucherinnen treffen auf gutgelaunte und engagierte Persönlichkeiten, die mit Freude auftreten. Bei Kirchturmbesteigungen hören sie etwas vom kirchlichem Leben im Bezirk, den sozialen Projekten und der aktuellen Arbeit der Gemeinde.
In Neukölln kann man auch so verrückt werden, wenn ich an die vielen Baustellen, den Müll auf den Straßen, den Kampf gegen Armut, Mietverdrängung, Rassismus und Gewalt denke. Um dagegen zu halten, findet sich in unserem christlichen Programm Jesus als Kopf der Gemeinde, der uns sein Leben zur Nahrung gibt (Joh 6,55ff). „Ich esse Seinen Kopf.“ Die vielleicht originellste Verrücktheit.

Von Lissy Eichert, Berlin