Schwerpunkt zum Welttag der Großeltern und älteren Menschen
"Verwirf mich nicht, wenn ich alt bin"
Foto: istochphoto/Phynart Studio
„ Mein Telefon klingelt ständig “
Wie viele Bewohnerinnen und Bewohner im St. Franziskus-Haus in Bad Iburg kaum Besuch bekommen? Pflegedienstleiterin Sonja Vogelsang muss überlegen. „30 bis 40 Prozent“, sagt sie dann. Und: „Das ist eine ziemlich gute Quote. Wir sind hier ja eher ländlich, da besucht man sich noch.“
Und trotzdem will das Haus dem tagtäglichen Gefühl der Verlassenheit entgegenwirken. „Wir haben hier fünf Hausgemeinschaften mit je zwölf Bewohnern“, sagt Vogelsang. Es gibt eine Art gute Stube zum Essen, Spielen und Zusammensein; morgens sind alle eingeladen, sich hauswirtschaftlich zu beteiligen. „Für jede Hausgemeinschaft wird einzeln gewirtschaftet, da braucht es Mithilfe“, sagt Vogelsang. Wäsche falten, Kartoffeln schälen, Gemüse schnippeln, gemeinsam essen: Für manche seien die Hausgemeinschaften eine Art Familienersatz.
Friedhelm Fuest ist einer der Bewohner. Seit dem letzten Herbst wohnt der 81-jährige Priester in einem kleinen Zimmer mit Bad im Erdgeschoss. Eine Muskel-erkrankung führt dazu, dass er inzwischen bei fast allem Hilfe braucht. „Seit neuestem muss mir das Mittagessen angereicht werden“, sagt er. Aber seinen Elektro-Rollstuhl bewegen – das geht noch. „Ich bin gerne draußen im Ort unterwegs.“
Nein, er fühlt sich in Alter und Krankheit nicht verlassen. Aber damit sei er die Ausnahme, sagt Fuest: „Die meisten sind nicht freiwillig hier. Viele fühlen sich von der Familie abgeschoben.“ Er will damit nicht sagen, dass sie tatsächlich abgeschoben wurden. Er weiß, dass irgendwann Pflege nebenher kaum noch zu leisten ist: „Aber viele Leute hier sind dement, sie verstehen das nicht. Sie fühlen sich einfach fremd und verlassen und wollen nach Hause.“ Andere seien enttäuscht von der Familie: „Sie sagen: Ich hatte doch lebenslanges Wohnrecht – und jetzt muss ich hier sein!“ Da sei viel Verbitterung dabei.
Fuest feiert als Priester im Franziskus-Haus auch Gottesdienste und ist weit darüber hinaus als Seelsorger und geistlicher Begleiter gefragt. Hat er den Eindruck, dass sich im Alter manche auch von Gott verlassen fühlen? „Seltsamerweise“, sagt Fuest, „scheint mir im Alter die Gottesfrage eine immer geringere Rolle zu spielen.“ Wichtiger seien lebenspraktische Fragen, „das, was jetzt gerade dran ist“. Und vielleicht, sagt er nachdenklich, zeige das ja, „dass der Glaube innerlich nie wirklich wichtig war, dass er eher zur äußeren Form gehörte“.
Aber diese äußere Form – der sonntägliche Besuch der Messe, das Mitbestimmen im Kirchenvorstand, der Chor, der Frauenkreis – hat für viele einen großen Teil des Lebens ausgemacht. Fühlen sich manche, die jetzt nicht mehr kommen können, von der Kirche verlassen? „Ja“, sagt Fuest, „ganz sicher“. Er nennt ein Beispiel: Jemand habe ihm erzählt, dass er zum runden Geburtstag einen Gratulationsbrief von der Pfarrei bekommen habe. „Er hat gesagt: Zwölf Leute haben unterschrieben. Mir wäre es lieber gewesen, einer wäre vorbeigekommen!“
Im Alter verlassen zu sein von Familie, Freunden und Bekannten: Friedhelm Fuest kennt das nicht. „Ich bekomme fast jeden Tag Besuch“, sagt er. Aber er weiß auch: „Dazu muss man selbst eine Menge beitragen.“ So müsse man sich sein Netzwerk in jungen Jahren aufbauen und Kontakte bewusst pflegen. „Ich war schon immer der, der angerufen hat, um das nächste Treffen auszumachen“, sagt er. Auch deshalb sind ihm aus allen Orten, in denen er als Pfarrer tätig war, Freunde und Bekannte geblieben. Und Menschen, die seine seelsorgliche Begleitung schätzen – und sei es telefonisch. „Mein Telefon klingelt ständig“, sagt er und klingt dabei ziemlich zufrieden.
Zudem helfe eine positive Lebenseinstellung. „Klagen macht einsam“, sagt Fuest – obwohl er mit seiner fiesen Krankheit jede Menge Grund hätte zu klagen. Er sieht aber lieber das, was geht, als das, was er nicht kann. Ein Charakterzug, den nicht jeder hat. „Die Menschen sind verschieden“, sagt Fuest. „Und dass ich bin, wie ich bin, empfinde ich als Geschenk.“
Trotzdem war der Umzug aus der eigenen Wohnung ins St. Franziskus-Haus nicht einfach, zumal Fuest zuvor schlechte Erfahrungen gemacht hatte: „Ich war schon einmal drei Monate in der Kurzzeitpflege. Da wurde ich abends um halb sieben fürs Bett fertig gemacht. Das war entwürdigend!“ Deshalb, sagt er, „war da am Anfang so’n Sträuben.“ Aber das habe sich gelegt. „Hier ist alles viel individueller. Zum Beispiel hilft mir hier die Nachtwache beim Zubettgehen, und das ist selten vor zehn, halb elf.“ Oder jemand hilft ihm beim Anziehen, wenn er mit seinem Elektromobil in den Ort fahren will. „Eigentlich bin ich jetzt viel flexibler als früher, als ich noch allein gewohnt habe.“
Deshalb lässt er auf sein neues Zuhause nichts kommen: „Ich sage den Leuten immer: Seid doch froh, dass ihr hier seid, dass ihr etwas anderes seht und hört und nicht einsam und alleine in eurer Wohnung hockt.“ Verlassenheit im Alter ist eben nicht nur, aber auch eine Frage der Einstellung.
// Susanne Haverkamp
Anders, aber wertvoll
Als ich ein Kind war, war es das größte Geschenk, am Freitagnachmittag bei meiner Oma Mathilde anzurufen und zu fragen, ob ich am Wochenende bei ihr übernachten darf. Meine Oma sagte dann: „Du kannst immer kommen.“ Jedes Mal sprang mein Kinderherz über, wenn ich mit meinen Eltern auf den Bauernhof fuhr, wo der Hund uns mit wedelndem Schwanz begrüßte und Oma schon ein Bett für mich bezogen hatte.
Heute übernachte ich nicht mehr bei meiner Oma. Sie bezieht keine Betten mehr und es steht auch kein „Pottkuchen“ mehr auf dem Tisch, wenn Besuch kommt. Denn inzwischen bin ich erwachsen und meine Oma ist alt geworden. Stolze 85 Jahre alt. Jetzt kümmert sie sich nicht mehr um andere, jetzt müssen ihre Kinder und Enkel sich um sie kümmern. Seit ein paar Jahren ist meine Oma dement. Sie vergisst, wo sie gestern war, wo sie vor einer halben Stunde war und will ständig „nach Hus hen“, obwohl sie ja schon zu Hause ist.
Mittlerweile irritiert mich das nicht mehr so. Ich freue mich eher, dass sie mich wiedererkennt. Und auch, wenn sie meinen Namen mit dem meiner Cousine verwechselt, sehe ich trotzdem noch den strahlenden Ausdruck in ihrem Gesicht. Es ist derselbe Ausdruck, den sie hatte, wenn ich als Kind auf den Bauernhof kam. Dann hält sie ihre beiden Hände um meine und sagt: „Endlich bist du mal wieder da“ – und ich fühle mich unglaublich geborgen.
Unverändert ist auch, wie sie redet. Denn auch wenn meine Oma nicht bei jedem Gespräch mitkommt: Menschen, die sie nicht kennen, merken das manchmal gar nicht, denn sie hat immer einen passenden Spruch parat. Seit sie dement ist, ist sie zu einer regelrechten Sprichwortschleuder geworden. Für uns, die wir sie kennen, ist das sehr witzig. Wenn jemand eine Geschichte erzählt und sich dabei fürchterlich aufregt, dann versteht sie vielleicht nicht, worum es geht, aber sie spürt: Da ist jemand sehr empört. Und sagt zum Beispiel: „Das sind Fahrten des Lebens, die kommen im Tod nicht mehr vor.“
Ich vermisse die Zeit meiner Kindheit, in der ich bei meinen Großeltern war. Es war die sorgloseste Zeit meines Lebens. Denn im Gegensatz zu meinen Eltern verwöhnten sie mich und außerdem hatte meine Oma eine riesige Kühltruhe, aus der ich so viel Eis essen durfte, wie ich wollte. Auch wenn sich jetzt alles verändert hat, bin ich froh, dass ich mit meinen 21 Jahren immer noch Großeltern habe, die ich besuchen kann.
Und ich merke: Manchmal wird es sogar besser. Mit meinem Opa zum Beispiel, der mit 88 Jahren geistig noch topfit ist, habe ich heute viel mehr Kontakt als früher. Meistens telefonieren wir mit-einander, und es sind wohl die dankbarsten Telefonate, die ich überhaupt führe. Wenn ich anrufe, lässt Opa alles stehen und liegen – und wenn wir uns verabschieden, sagt er, wie froh es ihn macht, dass wir uns so gut verstehen.
Ich merke, dass mein Opa diesen Kontakt braucht, denn in seinem Dorf ist er der Älteste, die meisten seiner Freunde sind gestorben. Seit er seinen Führerschein abgegeben hat, ist er nicht mehr so mobil und verbringt viel Zeit zu Hause. Das passt nicht zu ihm. Denn mein Opa genießt nichts mehr, als an einem vollen Tisch zu sitzen. Wenn an Karneval die Nachbarn vorbeikommen und Lieder singen, übertrumpft er alle. So viele Strophen wie er, kann keiner auswendig. Wenn ein Lied vorbei ist, stimmt er gleich das nächste an und fragt: „Ist das bekannt?“
Ich rufe ihn an, weil ich mich mit ihm ganz anders unterhalten kann als mit Freunden oder mit meinen Eltern. Mein Opa kennt mich schon mein ganzes Leben, er gibt mir nie das Gefühl, mich beweisen zu müssen.
Was uns verbindet, ist auch unser Glaube. Wir sprechen nicht ständig über Gott und die Kirche, aber er schätzt es zum Beispiel sehr, wenn ich erzähle, welche spannenden Interviews ich führe, während Gleichal-trige bei dem Wort Kirchenzeitung meist das Gesicht verziehen.
Egal ob es Liebeskummer, die Arbeit oder Zukunftssorgen sind: Mein Opa schafft es immer, die Dinge so zu drehen, dass ich die Chance darin erkenne. Vielleicht liegt das an seinem Namen: Felix, der Glückliche.
// Luzia Arlinghaus
Noemi, das Vorbild
Papst Franziskus ist alt. 87 Jahre alt. Er ist gesundheitlich eingeschränkt. Und auch wenn er in seiner Position wahrlich nicht einsam ist – viele seiner Freunde und Verwandten sind gestorben. Er ist einer von denen, die übrigbleiben.
Wenn Franziskus also einen Brief zum vierten „Welttag der Großeltern und älteren Menschen“ schreibt, dann weiß er, wovon er spricht. Und vielleicht ist es auch seinen immer wieder auftretenden gesundheitlichen Problemen geschuldet, dass er sich in diesem Jahr eben nicht an die Jungsenioren richtet, nicht an die fitten Omas und Opas, die mit ihren Enkeln Plätzchen backen, schwimmen gehen und im Wald herumstromern, sondern an die wirklich alten Alten. Und dass sein Brief interessante Überlegungen enthält, wie unsere Gesellschaft mit ihnen umgeht.
Überschrieben ist der Brief mit der klagenden Bitte aus Psalm 71: „Verwirf mich nicht, wenn ich alt bin!“ Gemeint ist Gott. Er möge treuer sein als die Menschen, die jene, deren Kräfte schwinden, durchaus verwerfen, abschieben, alleinlassen.
Und das nicht nur in Deutschland. Franziskus erinnert an die Alten in den armen Ländern, die ihre Dörfer allein bewohnen, weil die Jungen woanders ihr Glück suchen. In Städten. In Europa. Er erinnert auch an die Kriegsgebiete. In der Ukraine etwa bleiben vor allem alte Menschen zurück, weil junge Männer als Soldaten kämpfen und junge Frauen sich und ihre Kinder in anderen Ländern in Sicherheit bringen.
Auf den ersten Blick scheint es skurril, wenn Franziskus auch an solche Länder erinnert, in denen Alte verdächtigt werden, „sich der Hexerei zu bedienen, um den jungen Menschen ihre Lebenskraft zu entziehen“. Aber er hat schon recht, wenn er das auch auf unsere Breiten überträgt. So hält er es für einen weit verbreiteten Vorwurf, dass „die Alten auf Kosten der Jungen leben“, dass sie der Gesellschaft Kosten für ihre Pflege aufbürden und auf diese Weise „Ressourcen von der Entwicklung des Landes und damit von den Jungen abziehen“. Von dort ist es dann nicht mehr weit zu der Frage, ob sich die Pflege- und Gesundheitskosten noch rechnen oder ob jemand nicht besser selbstbestimmt und angeblich in Würde abtreten soll.
Franziskus schiebt die Schuld dafür aber nicht nur auf die jungen Leute. Eher auf das allgemeine Phänomen der Individualisierung, auf die „Verschiebung vom Wir zum Ich“. Da müsse sich jeder an die eigene Nase fassen. Denn selbst wenn man lange glaube, ganz allein sehr gut zurechtzukommen: Irgendwann entpuppe sich das als Trugbild – „eine traurige Entdeckung, die viele erst machen, wenn es zu spät ist“.
Und wie kann es besser gehen? Der Papst macht das am biblischen Beispiel der Noemi klar, von der das Buch Rut erzählt. Noemi, eine Migrantin, die wegen einer Hungersnot mit Mann und zwei Söhnen aus Betlehem ins Land Moab geflohen war, ist inzwischen verwitwet. Auch beide Söhne sind gestorben, nur ihre Schwiegertöchter, zwei Moabiterinnen, leben noch bei ihr. Für Noemi ist klar: Die beiden müssen jetzt ihr eigenes Ding machen. Deshalb fordert sie sie auf, sich einen neuen Ehemann zu suchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Noemi hat sicher Angst, allein zu bleiben, will aber ihrem Glück nicht im Weg stehen.
Die eine Schwiegertochter, Orpa, befolgt Noemis Rat, wenn auch schweren Herzens. Die andere, Rut, widerspricht: „Dränge mich nicht, dich zu verlassen“, sagt sie und bleibt (Rut 1,16). Genauer: Sie geht mit ihrer Schwiegermutter in deren Heimat zurück, nach Betlehem.
„Dränge mich nicht, dich zu verlassen.“ Hier schließt sich für Papst Franziskus der Kreis aus menschlicher und göttlicher Nähe. Rut, die Noemi nicht verlässt, wird nämlich Vorfahrin Jesu, „dem Emmanuel, dem Gott mit uns, der Gottes Nähe und Gegenwart allen – egal in welchen Umständen und in welchem Alter – zu Teil werden lässt“. Wenn der Papstbrief überschrieben ist mit „Verwirf mich nicht, wenn ich alt bin“, ist damit nur vordergründig Gott gemeint. Gott verwirft nie. Wer verwirft, das sind die Menschen.
// Susanne Haverkamp