Warum Tagebuch schreiben eine gute Idee ist

Vom Sehen, Aufschreiben und Durchdenken

Image

Die Stimme ist „laut wie eine Posaune“, schreibt der Seher Johannes im letzten Buch der Bibel. Und sie befiehlt ihm gleich zweimal: „Schreib auf, was du siehst.“ Denn Dinge, die man aufschreibt, bleiben – im eigenen Kopf und im Menschheitsgedächtnis, sagt die Theologin Lucia Zimmer.

Foto: istockphoto/Anna Gorbacheva
Erlebtes aufzuschreiben, hilft, es zu bewahren – für sich selbst und für andere. Foto: istockphoto/Anna Gorbacheva

Von Kerstin Ostendorf

Johannes, der „Bruder und Gefährte in Bedrängnis“ (Offenbarung 1,9), hat sich auf die Insel Patmos zurückgezogen und harrt dort aus. Er hat Visionen, sieht eine himmlische Frau, die von einer Sonne bekleidet ist, er sieht den Sieg Michaels über den Drachen, er sieht Christus, das Lamm, das Zehntausende um sich versammelt und er blickt auf die neue Erde und das himmlische Jerusalem. Mysteriöse, schwierige Bilder sind das. Was soll er damit tun? „Erstmal aufschreiben!“, beauftragt ihn eine Stimme. Am Ende wird ein ganzes Buch daraus.

„Johannes hinterlässt uns mit der Offenbarung ein schriftliches Zeugnis seines Glaubens“, sagt Lucia Zimmer. Die Theologin arbeitete als Pastoralreferentin im Bistum Osnabrück und war lange Zeit als geistliche Begleiterin aktiv. „Wenn uns zum Beispiel ein Verstorbener schriftlich Erinnerungen zu seinem Leben hinterlässt, ist das für die Angehörigen oft eine sehr kostbare Erinnerung“, sagt sie.
 
Erkenntnisse aus erster Hand an andere weitergeben

Das geschriebene Wort sei zudem ein Zeugnis, es sei verbindlicher und habe eine höhere Bedeutung als Geschichten, die mündlich erzählt werden. „Es ist eine vertrauenswürdige Quelle aus erster Hand“, sagt Zimmer. Erkenntnisse aus erster Hand weitergeben: Genau das sei auch Johannes’ Auftrag auf Patmos gewesen. Er schreibt, was er in seinen Visionen sieht, als Brief an sieben Gemeinden in Kleinasien. Er lobt die Christen dort oder tadelt sie für ihre Unentschlossenheit. Indem er ihnen von seinen Visionen berichtet und in großartigen Bildern von der Herrlichkeit und Macht Gottes schreibt, will er ihren Glauben an Jesus Christus festigen.

Die Bilder, die er dafür nutzt, stammen aus der jüdischen Tradition, vor allem aus den Psalmen und aus den Büchern Daniel und Ezechiel. „Die Menschen damals haben das verstanden. Für uns wirken sie eher fremd“, sagt Zimmer. Der Auftrag aber, den Glauben zu festigen, der verbinde die Christen heute mit Johannes auf Patmos. „Jeder und jede von uns ist berufen, Zeugnis abzulegen“, sagt Zimmer.

Ein geistliches Tagebuch für Erinnerungen und Klarheit

Das kann mündlich geschehen, indem wir von Jesus Christus erzählen. Das passiert, wenn wir aus dem Glauben heraus leben, uns für andere einsetzen, regelmäßig beten. Und für uns ganz persönlich geschieht es, wenn wir uns Johannes zum Vorbild nehmen und schreiben – zum Beispiel ein Tagebuch. „Es geht darum, Gedanken zu ordnen und das Erlebte zu reflektieren“, sagt Zimmer. Ein Tagebuch halte Erinnerungen fest und sorge im eigenen Kopf oft für mehr Klarheit.

Auch Lucia Zimmer hat schon Tagebuch geführt, besonders intensiv etwa während einer Zeit der Exerzitien. „Es geht nicht darum, den Tagesablauf chronologisch wiederzugeben“, sagt sie. „Am Ende einer Gebetszeit mache ich mir aber zum Beispiel Notizen zu meinen Gedanken und Gefühlen: Was ist mir eingefallen? Was hat mich bewegt? Was hat mich im Gebet oder im biblischen Text angesprochen? Und was hat mich verwirrt, verärgert oder gefreut?“ Wichtig sei dabei, die Umwelt und Mitwelt bewusst wahrzunehmen. „Die Frage ist: Was sehe ich denn? Ich muss sehr aufmerksam und achtsam schauen, was um mich passiert“, sagt Zimmer. Nicht jeder Sonnenstrahl und jedes Vogelzwitschern sei zwingend eine Gotteserfahrung. „Und dennoch darf ich all meine Gedanken und Einfälle aufschreiben“, sagt sie.

Das Tagebuch kann zum Gebetbuch werden
 
Dass es gut ist, das Gesehene festzuhalten, liegenzulassen und darüber nachzudenken, hat Lucia Zimmer selbst erlebt, als zufällig auf ihrem Schreibtisch eine Stellenausschreibung landete: für die Auslandsseelsorge in London wurde jemand gesucht. „Ich war gleich elektrisiert. London! Das musste ich machen“, erinnert sich Zimmer. Ihre geistliche Begleiterin riet ihr damals, zu warten und zu schauen, wie sich die Idee entwickelt. „Ich habe nichts überstürzt, sondern in mich hineingehört, was ich wirklich möchte und was Gott mir mitteilen, wohin er mich führen will“, sagt Zimmer. Letztlich ist sie nicht nach London gegangen, hat aber die Stelle innerhalb des Bistums gewechselt. „Ich merkte, je länger ich darüber nachdachte, dass ein Wechsel für mich das Richtige war. Die Stellenanzeige aus London war wie ein Hinweis für mich, dass ich Veränderung nötig hatte.“

Ein Tagebuch hilft, zu schauen, wie sich eine Idee entwickelt. Wenn ein Gedanke sich festigt, wenn eine Idee nicht mehr aus dem Kopf geht, dann kann das ein Hinweis sein. „Vielleicht brauche ich Veränderung in meinem Leben? Vielleicht soll ich etwas Neues wagen?“, sagt Zimmer. Das intensive Tagebuchschreiben könne zu einer Art Gebet werden, sagt Zimmer. Sie hat schon persönliche Dank-Litaneien, aber auch Klage-Psalmen in ihrem Tagebuch aufgeschrieben. „Aber ich bin keine Poetin. Ich schreibe, wie mir der Schnabel gewachsen ist“, sagt sie und lacht. „Diese Notizen sind nur für mich. Sie sind ganz persönlich und müssen deshalb auch nicht besonders gut formuliert oder hübsch komponiert sein.“

In Zeiten der Dürre von guten Erinnerungen zehren

So wie das Glaubenszeugnis des Johannes überdauert hat, so bewahrt auch Lucia Zimmer ihre Tagebücher auf. „Sie sind ein Schatz für mich“, sagt sie. Schließlich habe sie, wie die meisten Christen, nicht ständig herausragende Gotteserfahrungen. Sie sagt: „In Zeiten von geistlicher Dürre tut es mir gut, in einem alten Tagebuch zu blättern, zu schauen, was ich geschrieben habe und mich an die Situation zu erinnern.“ Vielleicht ist der Vers aus der Offenbarung des Johannes deshalb eine gute Idee auch für uns und unser Glaubensleben: „Schreib auf, was du siehst!“