Von der Klein- zur Geisterstadt
Seit Oktober 2016 bieten vier unscheinbare Wohnblöcke im Rahlstedter Gewerbegebiet Geflüchteten eine Unterkunft. Im Januar 2019 wird die Erstaufnahme „Neuer Höltigbaum“ des Malteser Hilfsdienstes schließen.
Olav Stolze blickt auf den verlassenen Spielplatz. Hier und da liegt noch ein zurückgelassenes Förmchen im nassen Sand. Stolze leitet für den Malteser Hilfsdienst im Auftrag der Stadt Hamburg die Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge „Neuer Höltigbaum“ im gleichnamigen Rahlstedter Gewerbegebiet. Die letzten vier Bewohner, eine albanische Familie, haben am 29. November ihre Koffer gepackt. „Das ist schon ein merkwürdiges Gefühl“, sagt der 51-Jährige. „Sonst herrschte hier viel Leben und Trubel, die Kinder haben auf dem Rasen Fußball gespielt.“ Aber das ist jetzt vorbei. Hamburg braucht die Unterkunft nicht mehr. Die Bewohner sind in andere Erstaufnahmen oder Folgeunterkünfte gezogen. „Die einstige Kleinstadt ist jetzt eine Geisterstadt.“
„Keine Zeit meines gesamten Arbeitslebens war so intensiv“, sagt Stolze nachdenklich. Drei Jahre seines Lebens hat er der Arbeit für Menschen in Not gewidmet – zusammen mit dem Jahr als Leiter der Notunterkunft in Hamburg-Osdorf zu Beginn des Flüchtlingsansturms im September 2015. Aus den chaotischen Verhältnissen der Notunterkunft in einer Turnhalle auf dem Gelände einer Bundeswehr-Kaserne kamen Stolze und seine Mitarbeiter an „schöne, sehr gut strukturierte Arbeitsplätze“. Gemeinsam hätten sie die Kleinstadt der 2016 neu geschaffenen Erstaufnahme mit Leben gefüllt und dabei viel Pionierarbeit geleistet.
Der Mensch steht im Mittelpunkt
„Bei uns stand immer der Mensch im Mittelpunkt, nicht die Verwaltung. Das ist uns ganz gut gelungen“, sagt Stolze. Die Sorgen der Menschen, die aus ihrer Heimat vor Krieg, Gewalt, Verfolgung oder materieller Not geflohen sind, ernst zu nehmen, sei wichtig gewesen. Es habe keine nennenswerten körperlichen Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern gegeben. Den Grund darin sieht er in seinem Arbeitsansatz: „Immer ein Ohr auf der Schiene. So wussten wir vorher, wo es brennen könnte.“ In dieses Konzept band Stolze alle Mitarbeiter ein, auch den Sicherheitsdienst und das Reinigungspersonal. Die verschiedenen Stimmungen der Bewohner einzufangen, habe wie ein Frühwarnsystem funktioniert. Klar habe es Unzufriedenheiten gegeben, das Essen oder Containerbelegung seien Dauerbrenner gewesen. Durch Geduld, Gespräche und lange Sprechzeiten hätten Stolze und seine Mitarbeiter die Stimmung gar nicht erst hochkochen lassen. Das habe aber nur funktioniert, weil alle das Konzept mitgetragen hätten.
„Dass wir jetzt nicht mehr gebraucht werden, ist ein gutes Gefühl. Für die meisten Menschen gab es eine positive Entwicklung und es ist weitergegangen.“ Viele Leben seien in kurzer Zeit an ihm und seinen Mitarbeitern vorbeigezogen – Kinder seien geboren worden, Menschen gestorben, Ehen geschieden worden, Paare hätten sich getrennt, Menschen hätten versucht, ihr Leben zu beenden, sie hätten aber auch gelacht und gefeiert. „Wir haben miterlebt, was in einem Leben so passieren kann.“ Dadurch sei auch die Arbeit so bunt wie das Leben gewesen.
Abwechslung statt Frust
„So etwas geht nicht ohne Ehrenamt“, sagt Stolze. Er meint damit den Betrieb einer Erstaufnahme, zu dem mehr gehört, als den Menschen nur ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen zu bieten. Ein buntes Ehrenamtsprogramm habe es gegeben: Musik, Basteln, Theater, Nähen, Sport- und Bewegungsangebote und Ausflüge. Auch die Deutschkurse für alle Bewohner – unabhängig ihres Aufenthaltsstatus – starteten ehrenamtlich. „Das war nicht nur reine Beschäftigung“, so Stolze. Die Fahrradwerkstatt beispielsweise habe die Bewohner mobil gemacht. Die Kinder hätten sich gefreut, dass sie die Räder beim Auszug mitnehmen konnten. „Das hat zur Gesamtstimmung beigetragen“, ist Stolze sicher.
Das ganze Projekt sei eine große Herausforderung gewesen, da 2015 niemand wusste, was ihn erwartete. „Bei uns gab es so gut wie keine Routine. Wir wurden täglich mit immer neuen Problemen der Menschen konfrontiert, die das Leben mit sich bringt. Sie sind in einem fremden Land, in einer fremden Kultur, da gibt es keine Patentlösung.“
Immer ein offenes Ohr für Sorgen und Nöte
Viele von Stolzes Mitarbeitern sind Quereinsteiger, auch Geologen und Filmemacher sind darunter. Entscheidend bei der Arbeit sei ein gesunder Menschenverstand gewesen und immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Bewohner. „Damit kommt man wahnsinnig weit. Wer das Hauptaugenmerk auf Verwaltung legt, wird damit nicht erfolgreich sein.“ Es hätte so viele persönliche Probleme gegeben, da müsse man gut auf die Menschen zugehen und diese „als Mensch behandeln, nicht als Problemfall“. Flüchtlinge seien Menschen in einer besonderen Situation. „Da hilft viel menschliche Nähe, das macht viele Dinge erträglicher. Das ist aber auch der schwerere Weg für Mitarbeiter. Das haben wir ganz gut hinbekommen.“
Noch ist die Arbeit in der Unterkunft nicht erledigt. Mitarbeiter, Handwerker und der Sicherheitsdienst gehen noch ihrer Arbeit nach. Stolze und sein Team müssen jetzt 560 Schlafplätze wieder herrichten, reinigen und desinfizieren. Alle Matratzen müssten getauscht, Steckdosen und Betten repariert, gestrichen, die IT ausgebaut, mancher Container auch entmüllt werden. Spenden werden umverteilt oder zurückgegeben. „Das ist ein großer Kraftakt, die Anlage wieder in den Urzustand zu versetzen.“ Alles müsse so hergerichtet werden, dass das Gelände als Notfallstandort innerhalb weniger Stunden wieder betrieben werden könne.
Text u. Foto: Stefanie Langos