Von Sonne, Mond und Zeit

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Nicht für alle hat am 1. Januar das Jahr 2022 begonnen. Für Juden leben wir im Jahr 5782, für Moslems im Jahr 1443. Kalender sind aber nicht nur religiös geprägt, auch geschichtliche Daten sind Ausgangspunkte ihrer Zählungen

Astronomische Uhr in der evangelischen St. Marienkirche in Lübeck
Die Astronomische Uhr in der evangelischen St. Marienkirche in Lübeck entstand von 1955 bis 1967. Ihre Fassade ist eine vereinfachte Nachbildung der alten Uhr aus dem 16. Jahrhundert, die bei dem Bombenangriff an Palmarum 1942 verbrannte. Foto: Marco Heinen

Es zählt zu den Ritualen am Beginn eines Jahres: Man hängt einen neuen Kalender auf. Die neue Jahreszahl prangt über den Monats-, Wochen- oder Tagesblättern. Aber welches Jahr beginnt denn nun? Was für jeden eigentlich selbstverständlich klingt, ist für alle eben nur unterschiedlich selbstverständlich. Und das liegt an den unterschiedlichen kulturhistorischen Ursprüngen der Kalender.

So ist dieses Jahr nur das Jahr 2022 im Kalender nach der sogenannten christo-zentrischen, perspektivischen Inkarnationsära, die im Jahr 525 der griechische Abt Dyonisius Exiguus bei der Berechnung der neuen Ostertabellen aufstellte. Gemeint ist damit die Geburt Christi als Ausgangspunkt der Jahreszählung, „das Jahr nach der Fleischwerdung unseres Herrn“, wie es in mittelalterlichen Urkunden oder verkürzt „Anno Domini“ als im „Jahre des Herrn“ genannt wird. Dabei ist Jesus gar nicht vor 2022 Jahren in Bethlehem geboren worden; vielmehr können wir his­torisch seine Geburt anhand von Personen und Ereignissen wie etwa König Herodes, Statthalter Quirinius von Syrien, der große Konjunktion von Jupiter und Saturn im Sternbild der Fische nur für den Zeitraum zwischen 7 oder 6 bis 4 vor unserer Zeitrechnung eingrenzen.

Auch am 27. September beginnt ein neues Jahr

Während der christliche Sonnenkalender also die Geburt Christi zum Ausgangspunkt hat, orientiert sich der jüdische Mondkalender an der biblischen Überlieferung zur Erschaffung der Welt im Buch Genesis. Dessen Jahr 1 beginnt mit dem ersten Tag des ersten Monats Tischri als „anno mundi“ oder „Jahr der Welt“ und wird 1 A.M. benannt. Umgerechnet auf unseren christlichen gregorianischen Kalender bedeutet dies, dass Gott mit der Erschaffung der Welt am Sonntag, 6. Oktober 3761 v. Chr. um 23.11 Uhr und 20 Sekunden begonnen hat. Der Jahreswechsel tritt nach jüdischer Zählung nicht am 1. Januar, sondern im Herbst (September/Oktober) ein. So ist das Jahr 2022 noch bis zum 26.9.2022 das Jahr 5782 A.M. des jüdischen Mondkalenders, am 27. September 2022 beginnt das Jahr 5783.

Wiederum einen ganz anderen Ausgangspunkt nahm der vormalige römische Mondkalender. Varro (116 bis 27 v. Chr.) berechnete das Jahr der Gründung Roms und kam dabei auf 753 v. Chr. Seine Berechnungen führen uns zu den schönsten antiken Dichtungen von Homer und Vergil, zur Ilias, der Odyssee und zu Äneas, dem aus dem brennenden Troja geflüchteten Sohn des Anchises und der Aphrodite. Nach Abenteuern auf dem Mittelmeer ging er in Latium an Land und wurde zum Ahnherrn der Römer. Auch heute noch merken sich die Schüler im Geschichtsunterricht dieses Datum anhand der Eselsbrücke: 7, 5, 3 – Rom schlüpft aus dem Ei. In der Vorstellung der römischen Weltmacht konnte natürlich alles nur mit Rom begonnen haben; also zählte man auch die Jahre „ab der Gründung der Stadt Rom“ („ab urbe condita“). So entspricht das Jahr 2022 dem römischen Jahr 2775. 

Nach dem römischen Kaiser Dio­kletian begann die Jahreszählung jedoch nicht mit der Gründung der Stadt Rom, sondern erst mit seiner eigenen Thronbesteigung am 29. August 284 n. Chr. Nach Diokletian leben wir also im Jahr 1737 AD respektive 1738 AD, wobei die Abkürzung AD natürlich nicht „Anno Domini“ bedeutet, sondern „Aera Diocletiani“. 

Auch diese Kalenderberechnung wurde neben dem dann schon bestandenen und weiterentwickelten römischen, julianischen Kalender zum Teil jahrhundertelang geführt.

Mondkalender hat elf Tage weniger

Auch der islamische Mondkalender hat einen individuellen kulturhistorischen und religiösen Ausgangspunkt. Natürlich nicht die Geburt Christi, die Erschaffung der Welt, die Gründung Roms oder die Thronbesteigung eines römischen Kaisers, sondern die Auswanderung Mohammeds von Mekka nach Medina im Jahr 622, die „Hidschra“. So entspricht das Jahr 2022 nach dem islamischen Mondkalender erst dem Jahr 1443/44 AH, wobei AH für „Anno Hegirae“ steht, dem „Jahr nach der Hidschra“. Der Jahreswechsel ist am 30. Juli 2022. Der Mondkalender mit 354 Tagen ist um elf Tage kürzer als der Sonnenkalender. Folglich gibt es seit der Hidschra mehr Mond- als Sonnenjahre. Legen wir die Zählung nach der Sonne zugrunde, so feiert der Islam 2022 das Jubiläumsjahr 1400.

Das für uns so selbstverständlich klingende Jahr 2022 kann folglich ebenso das Jahr 5782/83, 2775, 1737/38, 1400 oder 1443/44 sein, je nach religiösem respektive kulturhistorischem Ursprung. 

Wann begann also die Zeit?

Text: Lothar Obst