Teil 2 unserer Adventsserie
Wen trage ich?
Zweiter Advent. Wir gehen auf Weihnachten zu. Mancherorts wird der Stall von Betlehem bereits aufgebaut. Noch leer. Nach und nach werden Figuren hinzugestellt. Heute: Maria, die vom Esel getragen wird.
Von Andreas Lesch
M anch ein jüngerer Mensch hat sich in diesem Jahr zum Logistikprofi entwickelt. Hat wegen Corona für die Älteren eingekauft, für Eltern und Freunde aus der Risikogruppe – und musste in den Supermarktregalen plötzlich Produkte finden, die er nie zuvor gesucht hatte. An der Kasse quoll der Wagen über. Also aufgepasst: schön vorsichtig all die Bestellungen für drei, vier Haushalte so aufs Band und dann wieder in den Wagen legen, dass nichts runterpurzelt. Und zu Hause sortieren: dies in die Kiste, das in jene Kiste. Schnell noch ausrechnen, was wie viel gekostet hat. Dann ab ins Auto damit und los zu den Alten.
Die Pandemie hat unser Leben auf den Kopf gestellt – und zum Rollentausch geführt: Plötzlich wirkten die Eltern, die einst Erzieher und Beschützer waren, dann Ratgeber und Enkelaufpasser, hilfsbedürftig, verletzlich, schwach. Sie brauchten Schutz vor dem Virus. Und die Kinder, die beschützten sie. So waren da auf einmal ganz neue, erstaunliche Antworten auf die Frage: Wer trägt mich im Leben – und wen trage ich?
Wir wechseln Windeln und schmieren Brote
Vor gut 2000 Jahren, auf dem Weg zur Krippe, ist die Rollenverteilung klar gewesen: Da ist Maria vom Esel getragen worden. Sie, die hochschwanger war, konnte Kraft sparen; er schleppte ihr Gewicht. Aber heute? Sind wir da nicht alle mal in der Rolle der Maria – und mal in der des Esels? Und was heißt das überhaupt: tragen und getragen werden?
Fangen wir zu Hause an, im Kleinen, im Familienalltag. Da tragen wir die Kinder, Tag für Tag. Wir wechseln ihre Windeln, schmieren ihr Frühstücksbrot, lernen mit ihnen für die Englisch-Arbeit. Wir trösten sie, wenn sie mit dem Fahrrad gestürzt sind und sich das Knie aufgeschrammt haben – und wenn ihre Fußballmannschaft ein 0:10 kassiert. Wir bringen ihnen beim Mensch-ärgere-dich-nicht bei, dass man auch jenseits des Rasens mal verliert. Erklären ihnen, dass es auf der Welt Gut und Böse gibt und vieles dazwischen. Und versuchen ihnen vorzumachen, wie das gehen könnte: in dieser Welt christlich zu leben.
Aber wir tragen ihnen nicht jeden Pullover hinterher, den sie in die Ecke gepfeffert haben. Wir schlichten auch nicht jeden Streit zwischen ihnen und ihren Geschwistern. Wir bemühen uns, sie so zu erziehen, dass sie ihre Probleme selbst meistern können, jedes Jahr ein bisschen besser.
Wir brauchen Hoffnung, da die Gegenwart drückt
Die Kinder zu tragen, das ist nicht immer eine Last. Oft ist es federleicht: wenn wir sehen, wie sie sich über das frisch spendierte Eis freuen; wenn wir spüren, wie sie sich an uns kuscheln zum Lesestündchen auf dem Sofa; wenn wir mit ihnen lachen über einen herrlich flachen Witz. Wer andere trägt, der merkt, welche Kraft er hat, wie wichtig er ist und was er bewirken kann. Wer andere trägt, der trägt sich also gewissermaßen auch ein bisschen selbst.
Es sind ja nicht nur Kinder, die wir tragen. Auch Ehepartner, Freunde, Nachbarn. Und sei es durch ein Lächeln, einen Anruf, eine Einladung auf ein Bier am Gartenzaun. Die vielen Kleinigkeiten sind es doch, die auch uns tragen: das Kompliment der Kollegin für das gelungene Projekt; der verständnisvolle Spruch des Schaffners, wenn der Zug wieder Verspätung hat; das Hilfsangebot des Handwerkerkumpels, wenn die Tür nicht mehr richtig schließt und die eigene Reparierkompetenz eher übersichtlich ist.
„Einer trage des anderen Last; so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“, hat Paulus in seinem Brief an die Gemeinden von Galatien einst geschrieben. Dieser Aufruf zur Solidarität gilt auch heute, erst recht jetzt, in der Pandemie. Wenn alle mittragen, ist vieles möglich. Dann wachsen Nähe, Gemeinschaft und Zusammenhalt. Und es wächst die Hoffnung, dass wir auch die schlechten Zeiten überstehen.
Diese Hoffnung brauchen wir, jetzt, da die Gegenwart drückt und die Zukunft ungewiss erscheint, nicht nur wegen des Virus. Unsere Welt ist nicht mehr klein und überschaubar, sie wirkt groß, kompliziert und manchmal gefährlich. Vor allem verändert sie sich rasant. Die Corona-Krise hat uns gezeigt, wie schnell vermeintliche Sicherheiten zerplatzen können. Die Erderhitzung, deren Folgen gerade erst beginnen, lässt weit dramatischere Verwerfungen befürchten als die, die wir jetzt erleben.
Wie wir uns und andere da tragen können? Vielleicht, indem wir lernen, mit der Veränderung zu leben. Tun, was wir können, damit es gut weitergeht. Und akzeptieren, wo wir machtlos sind. Indem wir nicht zu sehr grübeln über das, was wird – sondern dankbar sind für das, was ist. Vor allem aber, indem wir auf Gott vertrauen, der immer da ist. Gerade dann, wenn uns das Leben besonders schwer vorkommt und wenn wir fürchten, darunter zusammenzubrechen, hilft der Glaube sehr. Dann spüren wir, wie tragfähig er ist.