Johanna Becks starkes Buch
Wenn das Herz rast
Die Missbrauchsbetroffene Johanna Beck kämpft für Veränderung in der Kirche. Ihr neues Buch ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel. Es ist klug, konstruktiv – und manchmal ganz schön mutig.
Von Andreas Lesch
Im November 2019 sitzt Johanna Beck an einem einsamen Bahnsteig irgendwo in Westfalen, im Minutentakt rauschen ICEs an ihr vorbei, und plötzlich denkt sie: „Wenn ich mich vor den nächsten vorbeirasenden Zug werfe, hat all das endlich ein Ende.“ Sie steht auf, stellt sich an den äußersten Rand des Bahnsteigs, wartet. Dann setzt ihre Erinnerung aus. Bis heute weiß sie nicht, was in den folgenden Minuten passiert ist. Als ihre Erinnerung wieder einsetzt, ist sie gerade in eine Regionalbahn gestiegen.
Beck erzählt diese Geschichte in ihrem lesenswerten Buch „Mach neu, was dich kaputt macht“. Als Jugendliche ist sie von einem Ordensmann missbraucht worden und hat unter der toxischen, fundamentalistischen Lehre der Katholischen Pfadfinderschaft Europas (KPE) gelitten.
Bis heute kämpft sie mit den Auswirkungen. Und sie kämpft für Veränderung in der Kirche, im Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz und beim Synodalen Weg. Ihr Buch ist der jüngste Beitrag dazu. Am eindrucksvollsten wirkt es dort, wo sie ihre persönliche Geschichte erzählt: offen, mutig, intim. Sie berichtet von Angst- und Schlafstörungen, Herzrasen und Panik – und eben von ihren Suizidgedanken am Bahnhof.
Als Beck diesen Moment überstanden hat, beschließt sie, sich professionelle Hilfe zu suchen. Und sie beschließt: „Ich möchte mein unfreiwilliges Wissen über diese katholischen Abgründe nutzen, um vielleicht irgendetwas damit bewegen und somit all dem wenigstens einen Hauch von Sinn verleihen zu können.“
Sie sieht auch das Gute, das es in der Kirche gibt
Das Buch ist ein guter Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel. Es ist so konstruktiv, wie der Titel verspricht. Beck, die Literaturwissenschaftlerin, Publizistin und angehende Theologin, schreibt klug und reflektiert. Sie kritisiert nicht nur, was in der Kirche schlecht läuft – sondern macht auch Vorschläge, wie es besser laufen könnte. Und sie sieht das Gute, das es in der Kirche eben auch gibt. Sie betont, dass sie dort „viele wunderbare, tröstende und ermutigende Menschen kennenlernen durfte“. Etwa den Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes, der sie seit Jahren freundschaftlich unterstützt.
Ihr differenzierter Blick macht ihre Kritik glaubwürdig und wertvoll. Beck ringt mit sich und mit der Kirche – wie so viele Katholikinnen und Katholiken heute. Sie schreibt, sie müsse sich fragen, ob sie angesichts ihrer Vergangenheit ihren Kirchenweg weitergehen kann oder ob es sich hierbei nicht um „eine seltsame Form von Stockholm-Syndrom“ handele. Aber noch geht sie diesen Weg. Weil ihr die Frohe Botschaft wichtig ist und sie sie „nicht den Menschen, die das Evangelium verdunkeln, überlassen will“. Sie will die Kirche wirklich erneuern, das spürt man.
Schlüssig erklärt Beck, warum die Themen, die in den vier Foren des Synodalen Weges diskutiert werden, die richtigen sind, um sexuellen Missbrauch in der Kirche zu bekämpfen. Sie sieht sich als „lebenden Beweis für die Notwendigkeit eben jener vier Synodalforen“. Erstens habe sie erleben müssen, wie ein Priester „durch die Überhöhung und Sakralisierung seines Amtes einen halbgottartigen und quasiimmunen Status innehatte“ (Macht). Zweitens, wie ein Priester „offenbar versuchte, durch den Zölibat seine Sexualität zu verdrängen und eklatant damit scheiterte“ (priesterliche Lebensform). Drittens, wie ein Priester „auf der einen Seite eine hyperrigide Sexualmoral predigte, aber auf der anderen Seite selbst eklatant dagegen verstieß“ (Sexualmoral). Viertens, wie er „jenes problematische katholische Frauenbild zur Täter-Opfer-Umkehr nutzte“ (Rolle der Frau).
Sie will gesehen und gewürdigt werden
Oft bezieht sie sich in ihrer Argumentation aufs Evangelium – und widerlegt damit jene Stimmen, die behaupten, reformorientierte Kräfte würden nur dem Zeitgeist hinterherrennen und den Kern des Glaubens aus dem Blick verlieren. Für die Machtfrage sei, so schreibt Beck, „das Evangelium ein Lehrbuch par excellence für eine Unterscheidung zwischen guten und schlechten Machtformen“. So steht dort: „Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“ (Mk 10,43–44) Die Machtform, die Jesus aufzeige, drehe die herrschenden Machtasymmetrien um, so Beck: „Hier werden gerade die Schwachen und Vulnerablen in die Mitte gestellt, hier geht es um die Macht der Machtlosigkeit.“
Beck vermisst ein Eingeständnis individueller Schuld und ein Wort der Entschuldigung von so vielen Tätern, Verantwortlichen, Bischöfen. Dies, betont sie, wäre „ein kleiner Satz für einen Kirchenvertreter, aber ein großer Satz für eine Betroffene oder einen Betroffenen“. Hier zeigt sich, worum es ihr vor allem geht: gesehen und gewürdigt zu werden – mit allem, was war und ist.
Johanna Beck: Mach neu, was dich kaputt macht. Verlag Herder. 192 Seiten. 20 Euro