Geistlicher Missbrauch
Wenn Seelsorger ihre Macht ausnutzen
Nach dem sexuellen gerät auch der geistliche Missbrauch zunehmend in den Blick: Bistümer und Orden wollen verhindern, dass Seelsorger eine Begleitung ausnutzen, um andere zu manipulieren.
Von Susanne Haverkamp
Hannah Schulz kennt sich aus. Als Fachfrau in der Beratung, aber auch als früheres Mitglied einer geistlichen Gemeinschaft. 23 Jahre hat sie mit der und für die Gemeinschaft im In- und Ausland gelebt und gearbeitet. Inzwischen ist sie selbstständige Therapeutin, berät und begleitet als Supervisorin einzelne, aber auch Bistümer, Orden und Gemeinschaften, die sich mit einem Thema beschäftigen, das zunehmend in den Blick gerät: der geistliche Missbrauch. „Ich weiß, wie es sich anfühlt, Opfer zu sein; und vielleicht sogar Mittäterin im System.“
„Glaube und Spiritualität sind ja etwas Gutes“, sagt Hannah Schulz. Auch, sich dabei begleiten zu lassen, etwa von einem Priester. „Aber Glaube und Spiritualität sollen in die Freiheit führen. Stattdessen wird geistliche Begleitung manchmal ausgenutzt, um andere zu unterdrücken, zu manipulieren oder gefügig zu machen.“ Besonders in Orden und Gemeinschaften ist so etwas anzutreffen, dort, wo „Enge und Ausschließlichkeit zur Abhängigkeit führen können, geistig und materiell.“ Möglich sei es aber auch in der Pfarrei und „überall, wo Kirche ist“, sagt Schulz und nennt etwa die Jugendarbeit. „Dort, wo die emotionale Bindung eng ist, wo man viel zeitliches und persönliches Engagement einbringt und wo charismatische Persönlichkeiten zu Idolen werden, ist die Gefahr am größten.“
Es gibt bislang keine benennbaren Fallzahlen
Dabei ist geistlicher Missbrauch nicht so einfach zu definieren. „Es ist ein Zusammenspiel von vielen Faktoren“, sagt Hannah Schulz. Und viel mehr als beim objektivierbaren sexuellen Missbrauch geht es auch um subjektives Empfinden. „Wenn früher in der Familie oder in der Schule Kinder gefügig gemacht wurden mit der Drohung ‚sonst kommst du in die Hölle…‘, dann leiden die einen ein Leben lang darunter, andere kommen leichter darüber hinweg.“ Ob sich jemand als Opfer fühlt, ist deshalb ein Kriterium.
Immer aber geht es darum, dass jemand, der geistliche Macht hat, die eigentlich frohmachende Botschaft verdreht. „Wenn Bibelverse aus dem Zusammenhang gerissen werden, um Druck aufzubauen; wenn für die Gemeinschaft die Bedürfnisse der einzelnen geopfert werden; wenn aus dem Wunsch nach Gebet der Zwang zu bestimmten Gebetsformen wird, das wären Beispiele“, sagt Schulz. Oder wenn etwa jemandem in der Beichte oder in einem seelsorglichen Gespräch vermittelt wird, dass er oder sie an einer zerstörerischen Ehe festhalten muss. Oder wenn jemandem vermittelt wird, unwürdig, schuldig und unfähig zu sein. „Und das alles im Namen Gottes und des christlichen Glaubens“, sagt die Beraterin. Und mit der geistlichen Autorität eines Menschen, der angeblich Gott besonders nahesteht und dem vertraut wird.
Es geht vor allem um Aufklärung
Bistümer, Orden und Gemeinschaften sind gerade dabei, in dieser Frage genauer hinzusehen. Etwa der Priester und Kirchenrechtler Gerhard Hörting aus Graz. „Den letzten Anstoß gegeben hat die Diskussion zwischen Erzbischof Schönborn und Doris Wagner im Bayerischen Rundfunk“, sagt er. Doris Wagner, die geistlichen und sexuellen Missbrauch in einer geistlichen Gemeinschaft in Rom erlitten hat und damit an die Öffentlichkeit ging. „Ich bin aber auch vorher schon im Zusammenhang mit meiner kirchenrechtlichen Aufgabe immer wieder auf Menschen gestoßen, die von Erlebnissen mit Seelsorgern erzählt haben, von denen man sich fragen könnte: War das geistlicher Missbrauch?“
Aber anders als beim sexuellen Missbrauch fehlen nicht nur unabhängige Untersuchungen und benennbare Fallzahlen. Es sind auch die rechtlichen Möglichkeiten weniger klar – die zivilrechtlichen wie die kirchenrechtlichen. „Am ehesten kann man an die Regelungen zum Amtsmissbrauch denken“, sagt Hörting. Gerade weil das aber recht vage ist, schlägt er vor „Richtlinien zu entwickeln, auf die wir uns verpflichten“. Das betrifft den Bereich Prävention und Ausbildung genauso wie etwa das Aussetzen von Rechten – zum Beispiel das Recht, Beichte zu hören. „Wie beim sexuellen Missbrauch merken wir auch hier immer mehr, wie wichtig es ist, dass Priester und andere geistliche Begleiter reife Persönlichkeiten sind“, sagt Hörting. Auch Anlaufstellen für Opfer sollten seiner Meinung nach eingerichtet werden.
Gerhard Hörting und Hannah Schulz ist Aufklärung ein großes Anliegen. Aber auch: nach vorne schauen. „Wenn man weiß, wo Spiritualität schiefläuft, ist es ja auch eine Chance zu fragen, wann und wie sie gesund ist“, sagt Schulz. Deshalb freut sie sich, wenn in Beratungsprozessen „die richtigen Fragen gestellt werden“, wenn Opfer und Verantwortliche konstruktiv mit dem Thema umgehen. „Das Geistliche in der Kirche zu vernachlässigen, ist ja auch keine Lösung“, sagt sie und: „Mich befriedigt das zu-tiefst, durch meine Arbeit das zu schützen, was mir wertvoll ist.“ Der Glaube, die Beziehung zu Gott, das Gebet. Und in all dem, sagt Hannah Schulz, „die größtmögliche persönliche Freiheit“.
Tagung in Leipzig
„Gefährliche Seelenführer? Geistiger und geistlicher Missbrauch.“ Unter diesem Titel steht eine Fachtagung, zu der die katholische Akademie Dresden-Meißen am 12./13. November nach Leipzig einlädt. Beteiligt sind Betroffene sowie Expertinnen und Experten aus Medizin, Psychologie, Rechtswissenschaft, Theologie und Kirchen. www.katholische-akademie-dresden.de/gefaehrliche-seelenfuehrer