Details aus einem Gesetzentwurf
Wer erhält Intensivtherapie?
Karlsruhe hat Druck gemacht. Der Gesetzgeber müsse unverzüglich Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen bei einer pandemiebedingten Triage zu treffen. Es geht um die schwierige ethische Frage, welche Patienten in einer Pandemie zuerst behandelt werden müssen, wenn es beispielsweise zu wenige Intensivbetten gibt. Ein Gesetzentwurf war für vergangene Woche angekündigt, blieb jedoch aus. Dennoch sind Details durchgesickert.
Worum geht es?
Während der Corona-Pandemie drohte zeitweilig eine Überlastung von Intensivstationen, etwa in Sachsen. Bekannt wurde auch, dass im März 2020 im italienischen Bergamo nicht mehr alle Covid-Patienten einen Platz auf den Intensivstationen fanden - und Ärztinnen und Ärzte auswählen mussten, wer behandelt werden konnte und wer nicht.
Was bedeutet der Begriff Triage?
Der Begriff Triage kommt aus dem Französischen und bedeutet Auswahl oder Sichtung. Er stammt aus der Militärmedizin zur Zeit der Französischen Revolution, wird aber heutzutage auch in Katastrophenfällen oder nach Terrorattacken angewandt. Er beschreibt eine Einteilung von Patienten nach der Schwere ihrer Verletzungen. Dadurch können Ärzte und Pfleger leichter entscheiden, wer zuerst behandelt wird, wenn medizinische Kapazitäten fehlen.
Welche Kriterien bieten sich an?
Ziel der Triage war es ursprünglich, Soldaten möglichst schnell wieder in den Einsatz zu bringen. Das bedeutet, dass diejenigen mit den besten Aussichten auf Genesung zuerst Hilfe bekamen. Alternativ dazu kann man die Entscheidung so treffen, dass möglichst viele Menschen überleben und zuerst derjenige behandelt wird, dessen Leben am meisten bedroht ist. Das Abwägen zwischen Dringlichkeit und Erfolgsaussicht spielt etwa auch bei der Verteilung knapper Spenderorgane eine entscheidende Rolle.
Gibt es verschiedene Formen von Triage?
Experten unterscheiden drei Formen von Triage: Die erste ist das präventive Freihalten von Intensivbetten. Auch das ist schon eine Triage, weil Krankenhäuser nicht-notwendige Operationen und Behandlungen zugunsten von Covid-Patienten verschoben haben. Die zweite Form ist die sogenannte Triage ex ante: Es gibt zwei Patienten und nur einen Behandlungsplatz. Ärzte und Pflegekräfte müssen dann entscheiden, wer den Platz bekommen. Die dritte Triageform - die sogenannte Triage ex post, ist noch heikler: Alle Betten sind belegt, und es kommt ein Patient, der ein Intensivbett braucht und eine bessere Überlebenschance hat, als ein Patient, der schon auf der Intensivstation liegt. Man müsste also die Behandlung dieses Patienten abbrechen. Ein solches Vorgehen ist rechtlich hoch umstritten: Nach verbreiteter Rechtsmeinung setzt sich der Arzt bei einer "ex post"-Triage einem hohen Risiko aus, wegen vorsätzlicher Tötung verurteilt zu werden.
Welche Werte spielen in der Debatte eine Rolle?
Hinter der Frage verbergen sich grundlegende Wertentscheidungen: Kann im Fall der Knappheit medizinischer Güter jeder Mensch gleich behandelt werden? Oder dürfen beispielsweise jüngere Patienten mit der wahrscheinlich längeren Lebenszeit gegenüber älteren Menschen bevorzugt werden? Muss man einen 30-jährigen Familienvater und eine 85-jährige Großmutter gleichsetzen? Dürfen offenkundig sonst gesunde Menschen bevorzugt werden gegenüber solchen mit Vorerkrankungen und Gesundheitsrisiken, deren Überlebenschance möglicherweise geringer ist?
Warum wird der Ruf nach konkreten Regelungen laut?
Um Willkür zu verhindern und um das medizinische Personal nicht alleine zu lassen, könnten festgeschriebene Kriterien zumindest Entscheidungen erleichtern und Mediziner und Pfleger auch psychisch entlasten. Auch könnten Klagen verhindert werden. Für Dringlichkeit hat auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Dezember 2021 gesorgt: Die Richter rügten, dass der Gesetzgeber es versäumt hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehenden intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird. Solche Regelungen müssten unverzüglich geschaffen werden.
Wer sollte solche Kriterien festlegen?
Darüber gibt es Streit. Der Deutsche Ethikrat betonte in seinen im März 2020 vorgelegten Ad-hoc-Empfehlungen zur Corona-Krise, dass der Staat selber "menschliches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben darf, welches Leben in einer Konfliktsituation zu retten ist". Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erklärte im Sommer 2020, er sehe keine Notwendigkeit, die Frage per Gesetz zu regeln. Der Staat überlasse die Entscheidungen den medizinischen Fachgesellschaften. Dagegen forderten Grüne, die Deutsche Stiftung Patientenschutz und der Weltärztebund Vorgaben des Bundestags. Nur das Parlament habe die demokratische Legitimation, Regeln über die Verteilung von Lebenschancen festzulegen.
Welche Entscheidungsmodelle gibt es?
Die Vorschläge bewegen sich zwischen zwei Polen: Sind alle Patienten im Konfliktfall möglichst gleich zu behandeln, oder darf es Kriterien geben? Eine Gleichbehandlung gäbe es etwa, wenn die Reihenfolge der Einlieferung oder das Los entscheidet. Mit Blick auf mögliche Kriterien haben der Ethikrat und die katholische Bischofskonferenz darauf gedrungen, dass eine Auswahl ausschließlich nach medizinischen Kriterien und im konkreten Einzelfall erfolgen muss. Keinesfalls dürften soziale Kriterien wie Familienstand, Alter, gesellschaftlicher Nutzen oder Nationalität ausschlaggebend sein.
Was haben die Fachgesellschaften vorgeschlagen?
Nach den im März 2020 veröffentlichten Vorschlägen sollen zunächst die intensivmedizinische Behandlungsnotwendigkeit und in einem zweiten Schritt die Überlebenschancen bei einer Intensivtherapie geklärt werden. Als Indikatoren für geringe Erfolgsaussichten gelten schwere Vorerkrankungen und begleitendes Versagen anderer Organe, aber auch weit fortgeschrittene neurologische oder onkologische Erkrankungen, Multimorbidität und erhöhte Gebrechlichkeit. Im April 2020 präzisierten die Fachgesellschaften, dass Grunderkrankungen und Behinderungen kein legitimes Kriterium für Triage-Entscheidungen seien. Zudem wurde die Prüfung des Patientenwillens vor der Aufnahme auf die Intensivstation stärker hervorgehoben. Auch die Fachgesellschaften betonen, dass in jedem konkreten Einzelfall abgewogen werden muss.
Welche Details aus dem Gesetzentwurf von Gesundheitsminister Karl Lauterbach sind bekannt geworden?
Mehrere Medien und die Grünen berichten, dass es bei knappen Kapazitäten während einer Pandemie künftig rechtlich auch möglich sein soll, die intensivmedizinische Behandlung eines Menschen zugunsten eines Patienten mit einer höheren Überlebenschance abzubrechen. Die ethisch brisante "Ex-post-Triage" soll nur dann zulässig sein, wenn drei intensivmedizinisch erfahrene Fachärzte die Entscheidung einvernehmlich treffen. Bei der "Ex-ante-Triage", bei der die Entscheidung über die Behandlung zwischen mehreren neu eingelieferten Patienten getroffen werden muss, reicht dem Entwurf zufolge die Zustimmung von zwei Fachärzten.
kna