Erzbischof Stefan Heße reiste zu Flüchtlingen nach Marokko

"Wir brauchen klare Verteilungsregeln"

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Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße ist Flüchtlingsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz. In dieser Woche hat er sich auf einer Reise durch Marokko über die Situation der Flüchtlinge und Migranten vor Europas Haustür informiert. Im Interview spricht Heße über bedrückende Berichte von Armutsflüchtlingen, das Engagement der katholischen Kirche für die Menschen und seine Erwartungen an Europa.

Foto: kna/Julia Steinbrecht
Der Hamburger Erzbischof Stefan Heße ist der Flüchtlingsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz. Foto: kna/Julia Steinbrecht


Herr Erzbischof, aus Marokko gibt es im Moment keine dramatischen Bilder von Flüchtlingen, die auf Grenzzäune klettern oder aufs Meer fahren. Wie haben Sie die Lage erlebt?
Marokko bleibt ein Brennpunkt für die Flucht- und Migrationsbewegung aus großen Teilen Afrikas. In dem Land leben Zehntausende Menschen, darunter übrigens viele Frauen und Minderjährige, die alle den Traum Europa haben. Ganz abgesehen von vielen jungen Marokkanern, die in ihrer Heimat selbst auch keine berufliche Perspektive sehen und nach Norden wollen. Allerdings sind die Grenzanlagen der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla fast unüberwindlich und der Weg übers Meer derzeit noch zu gefährlich. Das wird sich im Frühling wieder ändern, viele werden wieder in die Boote steigen. Aber für die meisten ist in Marokko erst einmal Endstation.


Wie geht die marokkanische Regierung mit der Situation um?
Die Migrationsministerin berichtete uns von zwei Phasen der Regularisierung des Aufenthaltsstatus' von Migranten vor einigen Jahren, von der ca. 50.000 Menschen profitiert haben. Hinzukommen ca. 7.000 von UNHCR registrierte Flüchtlinge. Deren Situation will die Regierung verbessern. Aber die praktische Umsetzung erscheint mir sehr vage: Werden die Kinder in die Schule gehen können? Gibt es öffentliche Gesundheitsversorgung für die Menschen? Vor allem ändert es nichts an der Situation der illegal im Land lebenden Afrikaner, also noch einmal circa 50.000, die besonders gefährdet sind.


Was heißt das genau?
Diese Menschen leben oft in den Wäldern rund um die Exklaven unter elenden Umständen, immer in der Hoffnung, irgendwie auf europäisches Gebiet zu gelangen. Und immer in der Angst vor der marokkanischen Polizei, die Razzien durchführt und die Leute oft mit Gewalt in den Süden des Landes verfrachtet, weg von Europa. Die Flüchtlinge werden dann sich selbst überlassen - einer erzählte mir, man habe seine Gruppe einfach am Rand der Wüste ausgesetzt. Von dort schlagen sich die Menschen natürlich wieder ans Mittelmeer durch, denn zurück in die Perspektivlosigkeit ihrer Heimatländer will keiner. Die Leute suchen dann irgendwelche Jobs, um zu überleben. Viele werden regelrecht als Arbeitssklaven ausgebeutet. Das gilt auch für die legalisierten Flüchtlinge.


Sie haben kirchliche Hilfseinrichtungen besucht. Welchen Beitrag können sie leisten?
Die katholische Kirche in Marokko ist eine reine "Ausländerkirche", die Zahl der Christen liegt im Promillebereich und die wenigen Priester und Ordensleute kommen meist aus Europa. Dafür leisten sie in der Flüchtlingshilfe sehr viel und werden dabei von kirchlichen Hilfswerken wie Caritas unterstützt, gerade aus Deutschland. Da geht es oft um das Nötigste wie die Verteilung von Decken und Lebensmitteln oder die Vermittlung von Hilfsbedürftigen an Krankenstationen, aber auch um berufliche Weiterbildung und Sprachkurse. Dieses kirchliche Engagement ist umso wichtiger, als der marokkanische Staat kaum nennenswerte Hilfe für "Menschen ohne Papiere" anbietet. Ich selbst war in einer Einrichtung der katholischen Kirche im marokkanischen Nador, wo besonders gefährdete Flüchtlinge für einige Zeit unterkommen können.


Und Sie sprachen mit den Betroffenen über ihre Erlebnisse?
Ja, man erfährt bedrückende Geschichten. Eine Frau hatte vor Kurzem entbunden und zwischen den Zeilen wurde deutlich, dass das Kind wohl aus einer Vergewaltigung stammt. Sexuelle Gewalt kommt auf den Reisen offenbar sehr häufig vor. Ein Junge war gerade 17 und seit vier Jahren allein aus Subsahara unterwegs. Der berichtete, wie man ihn ausgeraubt hat, kein Handy mehr und damit keinen Kontakt zu seiner Familie, kein Geld mehr. Dabei müssen die Flüchtlinge auf ihren Stationen immer wieder bezahlen, werden wieder ausgesetzt oder verhaftet, sollen wieder bezahlen und so weiter. Das sind oft große Tragödien, die sich hinter so einem terminus technicus wie "Unbegleiteter Minderjähriger" verbergen.


Wie müsste Europa aus Sicht der Kirche darauf reagieren?
Natürlich können wir nicht allen helfen. Einfach zu sagen "Kommt alle zu uns" würde Chaos bringen und das europäische System völlig überfordern. Aber so wie jetzt kann es auch nicht weitergehen. Man muss das Elend an den Grenzen mit Augenmaß, aber so gut wie möglich verringern. Migration lässt sich nicht auf Dauer mit Zäunen und Gewalt eindämmen. Für eine globale Herausforderung wie Flucht und Armutsmigration müssen endlich globale Lösungen gesucht werden. Deshalb plädiert die Kirche für sichere, legale und gesteuerte Wege der Migration. Möglichst vielen helfen, ohne die Aufnahmeländer zu destabilisieren - das ist harte politische Arbeit.


Geht es konkreter?
Wir brauchen zunächst einmal klare europäische Verteilungsregeln. Darüber hinaus sind wir auch für bilaterale- und multilaterale Initiativen dankbar, die für besondere Härtefälle, wie an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland, konkrete Lösungen anbieten. Und es braucht sinnvolle Projekte wie eine Initiative, die ich in Casablanca kennenlernte. Da vermittelt die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit 100 Marokkaner zur Ausbildung ins deutsche Hotelgewerbe, von denen viele zurückkommen und die Wirtschaft des Landes bereichern werden. Demnächst sollen 100 Auszubildende für das deutsche Baugewerbe folgen. So etwas hat Perspektive, von solchen Programmen bräuchten wir viel mehr.


Es bleibt aber ein Problem, von dem viele sagen, gerade die Kirche verschließe davor ihre Augen: nämlich die enorme Geburtenrate in Afrika, die den Bevölkerungsdruck immer weiter verstärkt.
Sie sprechen damit ein großes Problem an, das aber nicht mit einzelnen politischen Maßnahmen gelöst werden kann. Ganzheitliche Strategien sind erforderlich. Besondere Bedeutung haben hier die Bildung und die Stärkung der Frauen. Es hilft nicht weiter, den Wunsch afrikanischer Eltern nach vielen Kindern gegen die Entwicklungsprobleme des Kontinents auszuspielen.

kna