Konstruktive Debatten auf dem SachsenSofa
"Wir gehen dahin, wo es schmerzhaft wird"
Die Kirchen in Sachsen nehmen die Sorgen der Menschen ernst. Sie touren mit dem SachsenSofa durch die Dörfer – und diskutieren über Migration und demografischen Wandel, Pflegenotstand und Inflation. Thomas Arnold, der Leiter der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen, erzählt, welch erstaunliche Ergebnisse die Debatten bringen.
Wie ist die Idee des SachsenSofas entstanden?
Sie ist entstanden durch den Aufstieg von Pegida und die Erfolge der AfD. Der zentrale Ort der Pegida-Demonstrationen war Dresden, aber viele Menschen sind aus den Dörfern rundherum dorthingekommen. Das heißt: In diesen Dörfern gab es Probleme mit der Migrationsbewegung, die 2015 und 2016 durch den Syrien-Krieg entstanden ist. Also haben wir uns gedacht: Wir bieten ein Forum an, wo diese Probleme konstruktiv diskutiert werden können.
Und das auf einem Sofa.
Genau. Die Idee ist: Wir gehen zu den Menschen in die Dörfer und nehmen ein Möbelstück mit, das man sonst aus dem vertrauten Raum zu Hause kennt.
Warum gehen Sie mit dem SachsenSofa gezielt in den ländlichen Raum und nicht in große Städte?
Es braucht die Wahrnehmung der kleinen Orte! Wenn Parteien und Kirchen sich da zurückziehen und politische Probleme nicht mehr öffentlich diskutiert werden, dann ist die Gefahr groß, dass Rechtspopulisten in diese Lücke reingehen. Parteien, die mit Vorurteilen, Verkürzungen und Ressentiments spielen.
Was ist beim SachsenSofa Ihr Konzept?
Wir haben immer drei Gäste: eine Person, die sehr bekannt ist; eine Person, die eine christliche Perspektive einbringt; eine Person, die ein regionaler Player ist. Das kann eine Politikerin sein, ein Wissenschaftler, eine Sportverbandsvorsitzende – aber auch die Bäckersfrau von nebenan. Entscheidend ist, dass wir die Probleme vor Ort ins Gespräch bringen mit der großen Politik.
Was bewirkt das?
Oft geben uns die Leute im Publikum das Feedback: „Wir fühlen uns wertgeschätzt, weil jemand so Wichtiges zu uns kommt und unsere Probleme hört.“ Und die Gäste, die kommen, sagen: „Da hat mich was bewegt, das nehme ich mit. Das verändert mein Handeln. Daraus ziehe ich eine Konsequenz.“
Haben Sie ein Beispiel dafür?
2019 war der WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn beim SachsenSofa in Leubnitz im Vogtland zu Gast. Das Thema des Abends hieß: „Bewirkt meine Wahlstimme überhaupt etwas?“ Er hat dort den Frust und die Resignation der Leute gespürt, weil immer mehr Menschen wegziehen und die Alten zurückbleiben. Daraufhin hat er bei Infratest dimap eine Umfrage zum ländlichen Raum in Deutschland in Auftrag gegeben. Sie hat ergeben, dass es einen klar sichtbaren Zusammenhang zwischen Abwanderung und AfD-Wahlerfolgen gibt.
Was genau hat Schönenborn an dem Abend bewegt?
Die so großen Differenzen zwischen städtischem und ländlichem Raum. Und die zum Teil fehlende Bereitschaft der Menschen, Veränderungen anzunehmen. Da hat sich ein Bürger gemeldet und gesagt: „Sie haben uns alles genommen. Erst unser Geld. Dann unsere Wirtschaft. Und jetzt auch noch unsere Kinder.“
Was hat er damit gemeint?
Dahinter steckt etwas, das ich bei den SachsenSofa-Veranstaltungen immer wieder erlebe: Viele Menschen bewegen die Brüche nach der Wende weiter. Sie prägen ihre Biografie. Da stecken Verluste drin. Und die Generation, die sich nach 1989 trotzdem etwas aufgebaut hat, leidet jetzt unwahrscheinlich darunter, dass sie oftmals das Aufgebaute nicht an die nächste Generation mit Wertsteigerung weitergeben kann – weil so viele Kinder abgewandert sind und nie wieder in die alte Heimat zurückkommen werden. Dieser Schmerz wird uns in den nächsten Jahren begleiten, und die Gefahr besteht, dass die AfD daraus politisches Kapital schlagen kann. Denn Sachsen ist vom demografischen Wandel viel stärker betroffen als andere Regionen Deutschlands.
Wozu wird der demografische Wandel führen?
Zu einer Vielzahl von Veränderungen. Wir haben solche Dynamiken nach der Wende schon einmal erlebt. Da wurden Schulen, Lebensmittelläden, Krankenhäuser und Arztpraxen geschlossen, weil Menschen gegangen sind. Das löst bei den Menschen Ängste, Verlusterfahrungen, Trauer aus. Diese Menschen müssen wir begleiten. Und das Positive entdecken helfen.
Was in Sachsen macht Ihnen zurzeit besonders Sorgen?
Anders als zu Zeiten von Pegida wird heute nicht mehr nur in Dresden demonstriert, sondern flächendeckend, auch an vielen kleinen Orten. Das sind sehr geschlossene Gruppen, die im Internet größer wirken, als sie derzeit in Wirklichkeit sind. Aber als Zivilgesellschaft müssen wir darauf achten, dass ihre plumpen Antworten nicht zu vielen Leuten eine Heimat bieten, die man eigentlich zur gesellschaftlichen Mitte zählen würde.
Wie kann das SachsenSofa etwas dagegensetzen?
Wir wollen einen Raum bieten, wo Argumente sich treffen können. Wir wollen zeigen: Protest allein reicht nicht – und der Rückzug ins Private ist nicht die Lösung. Wir wollen Menschen motivieren, sich in politischen Debatten zu engagieren. Wenn es gelingt, dass Leute nach einem Abend beim SachsenSofa sagen, ich habe hier konkrete Ideen gehört, die packe ich jetzt mal an, in meinem Ort, dann ist das ein Erfolg.
Wo ist eine Debatte beim SachsenSofa mal besonders konstruktiv gelungen?
Wir hatten Ende Februar in Augustusburg in Mittelsachsen eine Debatte über das Thema Asyl und Migration. Klar ist: Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten nochmals verstärkt Migrationsbewegungen erleben, die in Deutschland ankommen – und zwar über Sachsen, weil wir nun mal Grenzgebiet nach Osteuropa sind. In einigen Orten werden gerade schon wieder Zeltstädte gebaut. Wenn die Flüchtlingszahlen so bleiben, werden die Orte im zweiten Quartal deutlich an ihre Kapazitätsgrenzen kommen. Spätestens dann haben wir da ein Problem. Denn die Migrationsbewegung trifft auf eine Bevölkerung, die von 2015 geprägt ist, verängstigt ist, teilweise polarisiert ist und manchmal auch frustriert.
Wie ist der Abend in Augustusburg gelaufen?
Er war sehr spannend. Wir gehen nie dahin, wo es Wohlfühldebatten gibt. Sondern wir gehen dahin, wo ein Thema brennt und wo es schmerzhaft wird. In Augustusburg war der Saal voll mit 120 Gästen, und abgesichert haben die Veranstaltung 60 Polizisten.
Oha! Wie kam das?
Die Einschätzung der Polizei, des Innenministeriums und des LKA war, dass wir dort eine Situation mit außerordentlicher Sprengkraft haben werden. Die drei Protagonisten auf dem Sofa …
… der sächsische Innenminister Armin Schuster, der Landtagsabgeordnete und Theologe Frank Richter und Dirk Neubauer, der Landrat des Landkreises Mittelsachsen …
… sind dann auch nicht zimperlich miteinander umgegangen. Und häufig ist ein Raunen durchs Publikum gegangen. Da hat man gemerkt, dass da nicht nur Freunde dieser Positionen sitzen. Und trotzdem ist diese Veranstaltung friedlich geblieben, und sie ist wirklich konstruktiv geworden – auch weil das Publikum sich so gut darauf eingelassen hat.
Inwiefern?
Die Leute haben sehr intensiv mitdiskutiert – und so viele Fragen gestellt, dass wir auch nach zwei Stunden noch nicht mit allen fertiggeworden sind. Wir werden deshalb jetzt ein digitales Format anbieten, in dem alle drei Sofagäste die offenen Fragen noch beantworten.
Sind die Leute immer so diskussionsfreudig?
Ja, das wird immer mehr. Bei den letzten SachsenSofas habe ich etwas beobachtet, das es vor Corona so noch nicht gab: Die Leute stehen nach der Veranstaltung nicht auf und gehen. Sondern sie bleiben da und diskutieren weiter. Sie suchen bewusst noch mit den Protagonisten auf dem Sofa das Gespräch. Da ist eine Sehnsucht gewachsen, Auge in Auge miteinander zu reden.
Was hat der Abend in Augustusburg an Erkenntnissen erbracht?
Innenminister Schuster hat aufgezeigt, in welchem Spannungsfeld er als Entscheidungsträger des Freistaats Sachsen in der Migrationsfrage steht und wo seine Grenzen sind. Der Landtagsabgeordnete Richter hat deutlich gemacht, dass nicht nur Ordnung Vorrang haben darf, sondern dass Humanität mindestens genauso im Blick sein muss. Und Landrat Neubauer hat erstmals in der Öffentlichkeit aufgezeigt, wie er in den nächsten Monaten die Herausforderungen lösen will, die durch die ankommenden Flüchtlinge entstehen. Er hat aber auch klargemacht, dass der Freistaat Sachsen ohne Migration nicht auskommen wird, wenn er seinen Wohlstand, seine Arbeitsplätze und seine Infrastruktur aufrechterhalten will.
Was meinen Sie damit?
Damit meine ich zum Beispiel: Der Bäcker von nebenan, den so viele schätzen, kann nur offenbleiben, wenn im Zweifelsfall eben auch ein Flüchtling dort die Brötchen backt.
Wie sehr spricht es sich mittlerweile herum, was das SachsenSofa bewirkt?
Ich bekomme nach Veranstaltungen oft E-Mails, und das wird im Moment sogar noch mehr, in denen Leute schreiben: „Wir haben hier ein Problem. Kann das SachsenSofa nicht auch zu uns kommen?“
Was sind das für Probleme?
Wir haben schon vor dem letzten Sofa gehört, dass mehrere Orte sagen, bei uns wird Migration ein Problem vor Ort – und wir müssen darüber in die Diskussion gehen, sonst fliegt uns das um die Ohren. Zuletzt kam aber auch eine Anfrage zu einem ganz anderen Thema: aus einer sächsischen Tourismusregion, die vom Wintersport lebt. Seit die Winter wegen des Klimawandels wärmer werden, muss sie den Wintersport quasi künstlich aufrechterhalten …
… indem sie sehr energieintensiv Kunstschnee produziert, was in Sachen Erderhitzung natürlich kontraproduktiv ist.
Genau. Diese Region steht jetzt in der Spannung zwischen Ökologie und Ökonomie. Die Politiker und Verantwortlichen aus der regionalen Wirtschaft sehen dieses Problem – und wollen es auf dem SachsenSofa diskutieren. Weil sie merken, dass sie alleine nicht mehr weiterkommen. Und weil sie fürchten, dass Ängste geschürt werden, wenn das nur zu Hause diskutiert wird und nicht im öffentlichen Raum.
Schön, dass die Verantwortlichen das SachsenSofa als geeigneten Ort dafür sehen, oder?
Ja. Der sächsische Innenminister Schuster deutete mir nach seinem Auftritt auf unserem Sofa an, dass sowas im Moment in Sachsen wohl nur die Kirche kann. Viele Verantwortliche aus Politik und Gesellschaft ermutigen uns: „Diskutiert über unsere Probleme! Aber diskutiert auch das, was Hoffnung macht! Nehmt ruhig auch mal das Wort Gott in den Mund! Bringt unser Denken in Gang!“ Das zeigt mir: Die Kirche ist ein anerkannter Player – auch bei Menschen ohne konfessionelle Bindung. Sie wird als eine Institution gesehen, die unparteiisch ist und wertefundierte Diskussionen anleiten kann. Ich freue mich darüber umso mehr, weil wir als Gläubige hier ja eine kleine Minderheit sind.
Warum ist es so wertvoll, Debatten über drängende Probleme mit christlichem Blick zu führen?
Weil die Kirche eine Hoffnungsperspektive bieten kann. Deswegen bekommt jeder Teilnehmer des SachsenSofas am Ende auch eine kleine Kerze, auf der „Hoffnungsmacher“ steht. Und weil wir gerade in schwierigen Zeiten ethisch fundierte Antworten auf drängende Fragen brauchen. Wir als Kirche können den Menschen Orientierung geben – oder sie zumindest in ihrer Verzweiflung, Trauer und Angst begleiten.
Sie wünschen sich kontroverse Debatten. Gibt es dennoch Gesprächspartner, die für Sie nicht infrage kommen?
Die Gäste müssen zum Thema passen, sie müssen mit Argumenten für ihre Position streiten können – und auch mit einem gewissen Erfahrungshorizont. Und sie müssen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen.
AfD-Politiker kommen als Gäste für Sie demnach nicht infrage?
Korrekt. Ich habe nichts dagegen, wenn der AfD-Ortsverband im Publikum sitzt und mitstreitet. Aber wir werden keine AfD-Politiker einladen. Wir werden einer Partei, die mindestens rechtspopulistisch ist und inzwischen in Teilen vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wird, kein öffentliches Podium bieten, auf dem sie ihre Positionen verkaufen kann.
Das nächste SachsenSofa beschäftigt sich mit dem Thema „Geldanlage oder Strumpf: Wie umgehen mit Inflation und Preishoch?“. Warum haben Sie dieses Thema gewählt?
Wenn die Inflation bei knapp zehn Prozent liegt und der Wohlstand sinkt, wenn die Bundesregierung Sondervermögen bildet, die faktisch Schulden sind, und wenn wir in vielen Bereichen Lasten anhäufen, die die nächsten Generationen tragen müssen, dann müssen wir diskutieren: Was ist uns als Gesellschaft etwas wert? Wofür wollen wir Geld ausgeben? Und wie viel sind wir bereit zu verzichten, damit es anderen besser geht?
Was erhoffen Sie sich am Ende des Abends für eine Erkenntnis?
Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wir sind ja kein Parteitag, der Beschlüsse fasst. Wir wollen eine offene Debatte. Wenn wir es schaffen, dass die Leute nach Hause gehen und am Küchentisch weiterstreiten, dann ist schon viel erreicht.
Manchmal ist es auch schon wertvoll, wenn keine Einigkeit erzielt wird, sondern erst mal Raum für den Streit ist, oder?
Auf jeden Fall. Wir leben in einer pluralen Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Da muss nicht jede Position miteinander vereinbar sein. Wir müssen uns am Ende des Abends nicht alle auf dem Sofa umarmen und harmonisch nach Hause gehen. Sondern wir wollen den Leuten Angebote machen zu überlegen: Welches Argument finde ich schlüssig? Welchem folge ich? Der Abend muss keine Lösung bringen. Aber er soll das Problem von verschiedenen Seiten beleuchten – und so einen Prozess in Gang setzen, der dann irgendwann hoffentlich zu einer Lösung führt.
Interview: Andreas Lesch
Nächste Station: Wurzen
Seit 2019 tourt die Katholische Akademie des Bistums Dresden-Meißen mit dem SachsenSofa durch kleine Orte im ländlichen Raum. Während der Corona-Pandemie fand das Format lange digital statt. Seit 2022 richten die Katholische Akademie und die Evangelische Akademie Sachsen die Veranstaltungen gemeinsam und wieder in Präsenz aus. Prominente Gäste waren bisher beispielsweise Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa und ZDF-Chefredakteur Peter Frey.
Die nächste Veranstaltung findet am 27. März in Wurzen statt. Thema ist: „Geldanlage oder Strumpf: Wie umgehen mit Inflation und Preishoch?“ Gäste sind Harald Langenfeld, der Vorstandsvorsitzende der Sparkasse Leipzig, Franziska Schubert (Fraktionsvorsitzende der Grünen-Fraktion im Sächsischen Landtag) und Linda Teuteberg, die für die FDP im Bundestag sitzt. Das SachsenSofa wird im Livestream übertragen.