Seelsorgerin für Menschen in Abschiebungshaft
„Wir sehen euch“
Foto: Theresa Breinlich
Die Mauer durchbrechen. Den abgeschotteten Raum öffnen. Seelsorgerin Evi Lotz-Thielen möchte für Durchlässigkeit sorgen. Den Blick weiten, wenn die Situation ausweglos ist. Seit neun Jahren betreut sie Gefangene in den Abschiebungshaftanstalten, den Gewahrsamseinrichtungen für Ausreisepflichtige, im Bistum Mainz, in Ingelheim und Darmstadt. Eins stellt sie von vornherein klar: „Hier sitzt keiner ein, weil er kriminell ist.“ Zusammen mit dem evangelischen Pfarrer Uwe Rau und der Rechtsberaterin Denise Honsberg-Schreiber kümmert sie sich um Menschen, die hinter einer Betonmauer und Stacheldraht auf ihre Abschiebung warten.
Sie sind eingesperrt, damit ihre Abschiebung garantiert ist, weil Fluchtgefahr besteht. Dafür muss es keinen Beweis geben. Es liegt seit 2019 am Inhaftierten zu belegen, dass er nicht vorhat zu fliehen. In Ingelheim sitzen derzeit etwa 16 Frauen und Männer ein. Im Jahr sind es 400 bis 600 abgewiesene Asylbewerber. Sie bleiben mindestens zehn Tage, manchmal bis zu vier Wochen und in seltenen Fällen mehrere Monate. Ihr illegaler Status wurde bei Grenz- oder Fahrscheinkontrollen oder Baustellenüberprüfungen festgestellt. Oftmals haben sie ihre Verwandten in Deutschland aufgesucht, sind aber beim Eintreten in die Europäische Union in einem anderen Land registriert worden. Nach dem Dublin-Abkommen müssen sie dorthin zurückgeschickt werden. Lotz-Thielen erinnert sich an eine syrische Frau, die zu ihrem Mann nach Deutschland wollte und in Rumänien registriert worden ist. Dort hat sie auch körperliche Gewalt erlebt. Sie saß in Ingelheim ein, hatte aber in ihrer verzweifelten Lage psychische Probleme und kam schließlich wegen Haftunfähigkeit in eine Psychiatrie.
Lotz-Thielen ist es sehr wichtig, dass von außen jemand Zugang hat, um das geschlossene System Gefängnis aufzubrechen, für die Gefangenen, die Mitarbeiter und die Öffentlichkeit. Die Menschen draußen sollen wissen, wie eine Abschiebung abläuft. Den Menschen hinter der Mauer möchte sie zeigen: „Wir sehen euch.“
Gottesdienste bringen Licht in den Alltag
Der Sakralraum, der an die Gänge mit den Zellen angrenzt, ist ihr größter Schatz. Jeden Samstag finden hier Gottesdienste statt. Menschen aller Religionen sind eingeladen. Meist sind alle Plätze belegt. Muslime können einen eigenen Gebetsraum besuchen, haben aber keinen Seelsorger. Es gibt ein kunstvolles Altarbild, eine geschnitzte Maria mit Kind und Stühle aus massivem Holz. Es ist ein starker Kontrast zur kargen Gefängnisatmosphäre. Hier hat die Seelsorgerin etwas erlebt, hier spürt sie einen geistlichen Ort, einen Riss, der durch den Alltag geht, hier kann das Licht Gottes einfallen, hier besteht eine vertikale Öffnung nach oben, glaubt sie.
„Wir ermöglichen Raum für die Begegnung mit Gott und helfen den Menschen, ihre Kraftquellen zu finden. Wenn das Gefühl der Ausweglosigkeit überhandnimmt, dann suchen wir mit den Menschen nach ihren Stärken. Auch wenn der eine Weg hier zu Ende ist, hat Gott mit den Menschen noch mehr vor“, sagt Lotz-Thielen. Einem Insassen haben die Seelsorgenden in der Wartezeit auf die Abschiebung die Möglichkeit gegeben, Musik zu machen. Das habe ihm enorm viel Kraft gegeben. Das Seelsorgeteam bietet den Inhaftierten auch Aktionen an, wie gemeinsames Malen oder Psalmenlesen. „Die Menschen sind sehr dankbar dafür“, sagt Lotz-Thielen.
Sie selbst macht in diesen Momenten wichtige religiöse Erfahrungen. „Es ist unser christlicher Auftrag: Was ihr für den Geringsten getan habt, das habt ihr für mich getan. In diesen Menschen können wir Gott finden. Das ist spürbar, wenn sie Kräfte in sich fühlen, die sie vorher nicht kannten“, sagt die Seelsorgerin. Überhaupt hätten diese Menschen Gott viel besser verstanden als wir. „Sie setzen alles auf eine Karte, um ein Leben in Sicherheit und Frieden zu suchen. Das ist das, was Jesus uns verheißen hat, ein Leben in Fülle.“
Sie, ehrenamtliche Helferinnen und Helfer und Mitarbeiter der evangelischen Kirche unterstützen die Menschen aber nicht nur spirituell, sondern auch praktisch. Sie besorgen Koffer und Kleidung, geben finanzielle Rückkehrhilfen oder suchen nach einer Anlaufstelle am neuen Ort, wo die Abgeschobenen Hilfe finden können. Sie halten Kontakt zu Angehörigen. Diese Aufgabe ist besonders wichtig, da Internet und Handy in der Haftanstalt in Ingelheim verboten sind. Diesen Punkt kritisiert sie immer wieder, wenn sie mit der Anstaltsleitung und der Aufsichtsbehörde spricht.
Lotz-Thielens Aufgabe ist erfüllend, aber auch kräftezehrend. Die 60-Jährige achtet auf ihre Auszeiten, um ihre Arbeit machen zu können. Sie nimmt etwa an Exerzitien teil oder liest für sich Psalmen. Wichtig ist ihr auch der Austausch mit den evangelischen Kollegen.
„Wir müssen menschlich bleiben“
Wenn Lotz-Thielen derzeit die Diskussionen in der Politik und in den Medien verfolgt, wenn immer mehr Schutzsuchende verbal ausgeschlossen werden, hat sie große Sorgen, dass die Menschlichkeit verloren geht. Sie bewegt sich immer in dem Spannungsfeld, was der demokratische Rechtsstaat erfordert und was die Menschlichkeit gebietet. „Natürlich können wir nicht alle aufnehmen. Wir müssen aber menschlich bleiben und flexibler handeln. Die Industrienationen müssen mehr in die ärmeren Länder investieren.“ Derzeit mache sich Deutschland leer, indem es auch qualifizierte Menschen abschiebt, weil es das Recht hergibt. „Das finde ich schwierig“, sagt sie. Die Politik solle den Menschen in den Mittelpunkt stellen und nicht danach fragen, was bei Wahlen Stimmen bringt.
Im Moment hat sie zwar nicht das Gefühl, dass die Haftanstalt voller wird. Doch die Schlagzahl der Verfahren habe sich erhöht, die Verweilzeiten werden kürzer, beobachtet sie. „Die Inhaftierten sollen möglichst schnell abschiebbar werden“, vermutet sie.
Dem Bistum dankt Lotz-Thielen sehr für die Unterstützung. „Hier ist Kirche glaubwürdig. Ich bin sehr froh, dass ich diese Arbeit machen darf. Sie ist sehr wertvoll.“