Moderne Computerspiele faszinieren. Sie können zur Sucht werden.

Zurück in die Wirklichkeit

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Moderne Computerspiele schaffen Welten voller Details, in denen sich besonders junge Menschen gern verlieren. Wenn dabei die Kontrolle über das eigene Leben entgleitet, sprechen Caritas-Berater von Sucht.


Computer- und Videospiele gehören zum Alltag junger Generationen. Manche „Games“ fesseln so sehr, dass alles andere nicht mehr wichtig erscheinen mag. (Symbolfoto)    Foto: imago images/Shotshop


„No Wifi“ – kein WLAN, heißt es unmissverständlich an den Wänden von „Lost in Space“. Verständlich, bedenkt man, warum die Leute für gewöhnlich in die Wartenburgstraße 8 in Berlin-Kreuzberg kommen. Nicht etwa, weil sie Probleme mit Alkohol oder Drogen hätten, sondern weil sie beim Konsum der neuen Medien- und Internetwelt vom Weg abgekommen sind. Sie sind süchtig nach Computerspielen, aber auch nach Pornografie und exzessiven Einkäufen im Internet. Oder, wie es der Name der Beratungsstelle ausdrückt, „verloren im Raum“, man möchte ergänzen: in Raum und Zeit.
Der Standort der Beratungsstelle unweit vom Kreuzberger Kiez mit seinen vielen Spielotheken ist kein Zufall, denn ursprünglich gegründet wurde die Caritas-Einrichtung 1987 als „Café Beispiellos“, eine Anlaufstelle für Glücksspielsüchtige. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich die Bedingungen geändert. Zwar sind die Glücksspieler keineswegs von der Bildfläche verschwunden, doch die schöne, neue Welt mit dem allgegenwärtigen Internet hat längst neue Suchtpotenziale hervorgebracht. So beraten Gordon Emons und seine sieben Kollegen heute überwiegend Menschen, die videospielsüchtig sind.


„Viel Zocken“ heißt nicht gleich süchtig sein
Doch ab wann ist das Kleben vor dem Bildschirm, das Hämmern auf den Tasten eigentlich so problematisch, dass man von Sucht sprechen muss? „Dass jemand viel Zeit vor der Spielekonsole verbringt, bedeutet nicht zwangsläufig, dass ist er suchtgefährdet oder gar süchtig ist“, sagt Gordon Emons. Er warnt einerseits vor zu viel Nachsicht, davor, dass Eltern zu lange wegsehen, andererseits aber auch vor übertriebener Vorsicht. Das Kind hat die Mathearbeit verhauen, weil es in den Tagen davor wenig gelernt, dafür aber umso mehr gespielt hat? Kann mal passieren. „Jugendliche testen vieles aus. Dabei handeln sie nun einmal nicht nur vernünftig, sondern auch mal nach dem eigenen Lustgefühl.“
Entscheidend sei für die Suchtberater vielmehr, welche negativen Folgeerscheinungen absehbar oder bereits eingetreten sind: „Wenn soziale Kontakte in der realen Welt abreißen, wenn Schule, Ausbildung oder Studium stark vernachlässigt oder gar nicht mehr besucht werden – dann reden wir von Sucht.“
Deshalb sei es zwar nicht optimal, aber auch nicht gleich bedenklich, wenn das Kind nach der Schule zum Klassenkamerad nach Hause gehe, um dort gemeinsam zu „zocken“. Immerhin, so der Berater, würden sie auf diese Weise Zeit mit realen Freunden verbringen. Gefährdet sind seiner Erfahrung nach vor allem Einzelgänger, Kinder und Jugendliche, die mehr in sich gekehrt sind, denen es für gewöhnlich schwerer fällt, Freunde und Anschluss an die Gruppe zu finden.
Was können Eltern tun, wenn sie merken, dass die viele Bildschirmzeit ihren Kindern nicht guttut; wenn die eine Vier in Mathe kein Ausrutscher war und der beste Freund schon länger nicht mehr zu Besuch gewesen ist? „Ein Allheilmittel gibt es nicht, ein paar Methoden dagegen schon“, sagt Gordon Emons. „Zunächst müssen die Eltern selbst Vorbilder sein. Belehrungen, doch bitte weniger Zeit vor dem Computer zu hocken, verlieren an Substanz, wenn die Eltern selbst viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen, am Fernseher oder am Smartphone etwa.“ Wirkungsvoll könnte dann zum Beispiel die einfache Maßnahme sein, dass die Familie zum gemeinsamen Abendessen die Handys außer Reichweite legt. Oder die Internetleitung zu später Stunde zu kappen.
Auch Belohnungen, etwa nach einer guten Note in der Klassenarbeit, seien laut Emons denkbar. „Unter dem Motto: Wir wissen, dass du nun einmal gern zockst, und solange alles andere nicht darunter leidet, ist das okay.“ In diesem Sinne könne sogar der neue Spielehit durchaus als kleine Extra-Motivation winken.
Schon viel früher stellt sich für Gordon Emons aber die generelle Frage, ob Kinder schon in jungen Jahren unbedingt ein Smartphone bräuchten. „Geht es nach den Kindern, lautet die Antwort natürlich: ja, klar, überhaupt keine Frage.“ Die andere Frage sei aber, ob Eltern diesem Wunsch deshalb auch direkt nachgeben müssten.
Die größte Gruppe Gamingsüchtiger, darauf legt Suchtberater Emons wert, seien jedoch nicht Kinder oder pubertierende Jugendliche, die nur etwa ein Fünftel der Betreuten ausmachen. Die mit Abstand größte Teilklientel stellten vielmehr junge Erwachsene dar, vor allem Männer im Alter von 25 bis 30 Jahren. Zwar gebe es auch spielesüchtige Frauen. In der noch immer männlich dominierten Welt der Computerspiele seien sie aber in der Minderheit und daher auch seltener zu Besuch bei „Lost in Space“. Dies könne sich, so Emons, mit der zunehmenden Öffnung des Marktes für Frauen und Mädchen aber zukünftig ändern.
Welche Probleme diese jungen Männer mit sich herumschleppen? „Sie haben Probleme in der Ausbildung oder im Studium, eine erfüllte Partnerschaft oder Sexualität ist in weiter Ferne. In den virtuellen Welten spielen diese Probleme scheinbar keine Rolle mehr. Der Zocker steuert seine Spielfigur, meistens einen tapferen Helden mit überragenden Fähigkeiten, mit dem er sich stark identifiziert. Er kann so in eine andere, eigene Welt abtauchen“, sagt Gordon Emons.
Es ist eine unheilvolle Dynamik, eine Art Teufelskreis, in den man leicht hineingerät, aber nur schwer wieder herauskommt. „Manche bleiben wochenlang vor dem Bildschirm, verlassen das Spiel nur vorübergehend zum Essen und Schlafen. Draußen in der realen Welt hingegen haben sie Angst vor sozialen Kontakten, auch davor, als Versager zu gelten.“ Depressionen, im schlimmsten Falle sogar suizidale Tendenzen können die Folge sein.

Geteiltes Leid ist halbes Leid
Den meisten Betroffenen sei durchaus bewusst, dass es so eigentlich nicht weitergehen kann. Anders als computerspielsüchtige Jugendliche, die dank der Eltern zumeist einen vollen Kühlschrank und einen solide geführten Haushalt vorfinden, gehe es bei den Menschen Mitte, Ende 20 früher oder später ans Eingemachte: kompletter Rückzug aus der Gesellschaft, Job weg, Wohnung weg, stattdessen die Scham davor, sich irgendwem anzuvertrauen, selbst der eigenen Familie.
Einige von ihnen landen dann bei Gordon Emons und seinen Kollegen. Schlüssel für eine erfolgreiche Beratung seien bei Erwachsenen vor allem die Gruppengespräche, begleitet von einem Sozialarbeiter oder der Psychologin, die zum „Lost in Space“-Team gehört. In der virtuellen Welt findet eine kritische Auseinandersetzung mit der wirklichen Lebenssituation eher selten statt. „Man spielt ja gerade, um abschalten zu können, das auszublenden, was einem sonst zu schaffen macht.“ Auch offenzulegen, dass man selbst nicht unbedingt auf der Gewinnerseite steht, falle den meisten schwer.
„In unserer Gruppentherapie ist das anders, denn hier ist man unter seinesgleichen, einer von vielen mit ähnlichen Problemen. Für die Betroffenen ist das eine große Erleichterung“, sagt Gordon Emons. Nach anfänglicher Scheu öffneten diese sich in der Runde, „erzählen, wie sie in die Situation hineingeschlittert sind und warum es ihnen so schwer fällt, einen neuen Anlauf zu wagen, um auszubrechen. Je häufiger sie in die Sitzungen kommen, desto mehr lernen sie sich kennen und schätzen, machen sie einander Mut.“ Im Prinzip fast wie in einer Selbsthilfegruppe? „Ja, das könnte man so sagen. Die Betroffenen sind sich untereinander immer die besten Therapeuten.“
Wie auch bei anderen Suchterkrankungen sei wichtig, nicht nur das Problem als solches zu erkennen und zu benennen, sondern auch mögliche Alternativen aufzuzeigen. „Wir schauen gemeinsam mit den Klienten, welche Interessen sie haben, auch, wo ihre Stärken, ihre Talente liegen.“ Vielleicht gibt es ja ein passendes Freizeitgebot um die Ecke, einen passenden Sportverein, vielleicht  auch ein kirchliches Projekt.
Apropos: Spielt das Thema Religion bei der Behandlung von Gamingsucht eigentlich eine Rolle? Emons überlegt kurz. „Nicht zwingend. Wenn wir aber merken, dass Spiritualität etwas sein kann, das dem Klienten Stabilität und Sicherheit verleiht, dann greifen wir das gern auf.“
Ansonsten gelte bei „Lost in Space“ wie bei allen anderen Caritas-Angeboten auch: Ausnahmslos jeder ist willkommen, jeder bekommt Hilfe. Das ist es auch, was Gordon Emons, selbst Katholik, an seinem Beruf und seiner Dienststelle so schätzt. „Den Menschen so anzunehmen, wie er ist, ihn nicht zu veurteilen oder in eine Schublade zu stecken, ihm dabei zu helfen, wieder auf den richtigen Weg zu finden – das ist es, was Jesus Christus für mich verkörpert. Das sind für mich christliche Werte.“

Von Stefan Schilde