Glauben auf der Reeperbahn
Zwischen Kirche und Kiez
Party, Sex, Musik, Kultur: Der Kiez von St. Pauli lebt von seinen Mythen. Dahinter aber stehen reale Menschen. Einer von ihnen ist Karl Schultz. Der katholische Geistliche in St. Joseph hat über seine Erfahrungen ein Buch geschrieben.
Auf Seite 147 seines Buches beschreibt Pfarrer Schultz die Osternacht 2020. Mit seinem evangelischen Kollegen geht er mit der Osterkerze durch die Straßen: „Der Kiez war wie tot.“ Kneipen, Clubs, Theater und auch die Kirchen – alles wegen Corona geschlossen. Die Geistlichen geben jedem Haus den Ostersegen – Reeperbahn, Große Freiheit, David- und Herbertstraße. „Die Christen und der Kiez. Beide glauben an die Auferstehung“, sagt der evangelische Pastor.
Auferstehung gehört zur Geschichte von St. Pauli. Oft war der Kiez am Ende; heruntergekommen, dann wieder schick, mal wild, mal bürgerlich, mal Schmuddelecke, dann wieder Kulturhochburg. „Bist auferstanden aus all dem Siff – jetzt legen wir wieder an mit unserem Schiff“, so sang Udo Lindenberg 1990 über die Reeperbahn, die gerade mal wieder ein Comeback hingelegt hatte. Heute braucht der Kiez wieder eine Auferstehung. Corona hat das Nachtviertel ins Herz getroffen. „Die Clubs müssen um elf Uhr schließen“, sagt Karl Schultz. „Aber da geht das Leben hier erst los. Viele machen gar nicht erst auf. Und nicht alle werden das überleben.“
Seit 2010 ist Schultz Pfarrer in St. Joseph, Große Freiheit Nr. 43. Die katholische Kirche ist ein Teil der Kiezlegende. 1718 wurde sie gebaut. Das ging, weil westlich des Millerntors das dänische Altona lag und die dänischen Könige Religionsfreiheit gewährten. Rund um die um die „Große Freiheit“ war vieles erlaubt, was in Hamburg verboten war.
St. Joseph ist eine Gemeinde wie viele andere, mit Sonntagsmesse, Blasiussegen, Fastenzeit und Fronleichnam. Aber die Gemeinde von Karl Schultz umfasst eben auch die Reeperbahn und die Davidstraße – und die Menschen, die dort leben, arbeiten und sich vergnügen. „Am Donnerstag beginnt eine Dauerparty.“ Der Pastor erzählt, wie sich der Rummel bis zur Samstagnacht steigert – und oft ausartet. Aber einige Kiezbummler finden mitten in der Partynacht – wenn gerade „St. Joseph by Night“ ist – eine offene Kirche, ein Programm mit ruhiger Musik und Texten. Und viele werden überrascht und berührt von der Stille mitten im Nachtleben.
Der Kiezpfarrer ist da, wenn es ernst wird
„Wir haben 2010 Schritt für Schritt versucht, eine Pastoral der offenen Türen zu entwickeln – hauptsächlich für die Nacht.“ Karl Schultz gesteht: „Um es klar zu sagen: Ich liebe dieses Nachtleben, diese Nachtstimmungen.“ Der Pastor liebt auch die Begegnung mit den Kiezgrößen, die wichtig sind für den sozialen Zusammenhalt im Viertel, Leute wie Corny Littmann, Olivia Jones, Udo Lindenberg. 2016 hat der Popstar seinen Gemäldezyklus „Die zehn Gebote“ in St. Joseph ausgestellt. Der Kreuzweg musste dafür abgehängt werden, es gab Proteste aus der Gemeinde. Aber zwischen dem Kiezpfarrer und dem Künstler begann eine Freundschaft . Das Cover des Buches „Zwischen Kirche und Kiez“ zeigt den Autor Karl Schultz mit Weinglas, gemalt von Udo Lindenberg. Das kam so: Eine Lektorin des Rowohlt-Verlags hatte Schultz vorgeschlagen, ein Buch zu schreiben; mit Bildern, aber welches sollte das Titelbild sein? „Ich habe eine andere Idee“, sagte der Geistliche. Er fragte Lindenberg, ob er nicht ein Titelbild malen könne. „Und wenn du schon dabei bist, kannst du auch gleich ein Vorwort schreiben.“
Das Buch enthält viele interessante biografische Geschichten. Aber es ist keine launige Anekdotensammlung. Karl Schultz nimmt Stellung – er verrät, wie er zu diesen Ansichten gekommen ist. Die Herkunft aus der DDR spielt dabei eine Rolle, seine erste Tätigkeit in der evangelischen Jugend- und Studentenseelsorge –„Nun war ich wirklich Handlanger auf Gottes Bauplatz“ – Dazu kam die Erfahrung von Taizé und des international-ökumenischen „Pilgerwegs des Vertrauens“, der Kampf um die politische Freiheit 1989, seine Konversion zur katholischen Kirche und die Priesterweihe. Einige Ansichten, die aus all dem erwachsen sind, werden anecken. Etwa seine Haltung zu Segnungen gleichgeschlechtlicher Paare: „Wie kann ich das Segnen verweigern, wenn Menschen mich darum bitten – zumal, wenn es sich um gläubige Katholiken handelt?“
Zum Thema Prostitution hat er eine differenzierte Sicht. Zuhälterei, Menschenhandel, Gewalt sind nicht zu verharmlosen, argumentiert Schultz. „Aber was ist daran zu kritisieren, wenn Frauen souverän, legal, sozial abgesichert und tatsächlich selbstbestimt als Sexarbeiterinnen ihr Geld verdienen?“ Natürlich ist das nicht die katholische „Sexualmoral“. „Ich bin aber nicht mit dem Anspruch hierhin gekommen, dem Rest der Welt zu sagen, was gut ist und was nicht. Ich möchte hier Räume des Vertrauens öffnen.“
Tatsächlich vertrauen die Leute vom Kiez dem Priester. Die Polizisten von der Davidwache, die er jedes Jahr segnet; die Nachbarn in den Spielhallen und Clubs und die Sexarbeiterinnen. Denn der Kiezpfarrer hält nicht nur seine Kirchentür offen, er geht auch hinaus und ist da, wenn es ernst wird. Etwa bei den Krawallen beim G20-Gipfel 2017. Oder bei der Coronakrise. Im Frühjahr 2020 organisierte eine Gruppe um Olivia Jones eine Mahnwache auf dem Beatlesplatz. Beide Kirchen waren vertreten, und Karl Schultz wurde gebeten, ein Gebet zu sprechen. Er sagte: „Jedes Theater, jeder Klub, jede Kneipe und jede Bar haben ihr Recht, ihre Berechtigung. Lass uns miteinander achtsam, respektvoll und tolerant umgehen und, wenn möglich in diesen Zeiten, auch solidarisch. Erwecke den Kiez aus seinem erzwungenen Dornröschenschlaf. Hauche uns wieder Freude – Lebensfreude ein, die hörbar, sichtbar und erlebbar ist. Schenke uns Leben – Leben in Fülle. Amen“
Karl Schultz: Zwischen Kirche und Kiez, Ansichten eines Pfarrers, Rowohlt Verlag, 12 Euro.
Text u. Foto: Andreas Hüser