Aufarbeitung von Missbrauchsfällen
Gespräch löste eine Lawine aus
Foto: Benno König
Vor ziemlich genau 14 Jahren, am 13. Januar 2010, geschah etwas, das die katholische Kirche und viele andere Institutionen verändern sollte. In seinem Arbeitszimmer empfing der Jesuit Pater Klaus Mertes, damals Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin, drei Männer, die Jahrzehnte zuvor in dieser Schule sexuell missbraucht worden waren. Einer von ihnen war Matthias Katsch, der zu einer Schlüsselfigur im Kampf gegen Kindesmissbrauch in Deutschland wurde.
„Das ist der Anfang der Geschichte“, sagt Pater Mertes, als er am 9. Januar vor rund 70 Zuhörern im Gemeindesaal der Pfarrei Heilige Familie in Berlin-Spandau von den damaligen Ereignissen erzählt. Eingeladen zu dem Gespräch hat den Jesuitenpater die Gruppe Synodale Gemeinde/Maria 2.0 gemeinsam mit der Katholischen Frauengemeinschaft (kfd) und der Spandauer Kolpingsfamilie.
Nachdenklich und eindringlich beschreibt Pater Mertes, wie aus jenem Gespräch der größte Skandal der katholischen Kirche im Deutschland der Gegenwart wurde. Im Mittelpunkt steht für ihn dabei stets die Perspektive der Betroffenen – deren Leid, deren Schutz und deren Anspruch, Glauben zu finden, wenn sie oft nach langem Schweigen über das ihnen angetane Leid sprechen. Und Pater Mertes beschreibt „die Abwehr- und Vermeidungsstrategien“ von Vielen in der Kirche, die um das Ansehen der Institution fürchten.
Der Jesuit hat sich damals als Rektor entschieden, Katsch und den anonym gebliebenen beiden anderen Missbrauchsopfern zu glauben. Und er hat einen Brief an rund 600 möglicherweise ebenfalls betroffene frühere Schüler seiner Schule geschrieben. Das Schreiben gelangte auch an die Medien, wodurch der Missbrauch öffentlich wurde.
Am erschreckendsten war die Vertuschung
Dieser Missbrauch war keine einmalige Handlung, beschreibt Pater Mertes, keine Tat von jemandem „der sich nicht beherrschen konnte“. Vielmehr seien die Missbrauchstaten – in diesem Fall von zwei Patres – über viele Jahre hinweg systematisch geplant und umgesetzt worden - „aus Lust an Dominanz“ und aus Gier nach Macht, „denn das Thema Macht ist tief verborgen im Missbrauch“.
Auch Pater Mertes ist der Umgang mit dem Skandal an seiner damaligen Schule und bald auch weit darüber hinaus nicht leicht gefallen. Er kannte die Täter nicht, zumal er erst 1993 an das Kolleg kam, aber es stand die bedrängende Frage im Raum wie es sein konnte, dass Mitbrüder jahrelang mit den Tätern „Tür an Tür“ lebten, ohne etwas zu merken.
Was ihn aber noch mehr erschreckt hat, sind jene Mitbrüder und auch hohe Amtsträger der Kirche, die vom Missbrauch wussten, aber schwiegen. Diese seien zwar selbst keine Täter gewesen, „aber trotzdem vertuschten sie“, und, sofern es um Straftaten geht: „Vertuschung zum Zweck der Strafvereitelung ist selbst auch eine Straftat“.
Das sei ja allgemeine Praxis gewesen: Täter wurden zwar aus ihrem Umfeld „herausgeholt“, sei es das Canisius-Kolleg, andere Schulen oder Kirchengemeinden. Doch sie wurden versetzt an andere Schulen oder Gemeinden, wo sie häufig ihre Verbrechen weiterführten.
„Uns habt ihr vergessen“, zitiert Pater Mertes Kritik von Missbrauchsopfern an solchem Verhalten. Auch am Canisius-Kolleg hatte es schon vor jenem Gespräch 2010 durchaus Hinweise auf die Verbrechen und auch interne Untersuchungen gegeben, die jedoch weitgehend folgenlos geblieben waren.
„Täter müssen benannt werden, damit die vielen Opfer die Chance haben, sich zu melden“, fordert der Jesuit weiter unter Hinweis auf viele hunderte, wahrscheinlich tausende Opfer. Diese müssten bei der Aufarbeitung der ihnen angetanen Verbrechen einbezogen werden.
Ihnen dürfe aber nicht die Verantwortung dafür aufgeladen werden. Und die Aufklärung, betont Pater Mertes, könne nie allein von innen kommen, denn „ein monarchisches System kann sich nicht selbst aufklären“.
Spaltungen überwinden braucht langen Atem
Der Jesuit würdigt im Gespräch mit Moderatorin Waltraud Eckert-König Fortschritte, die es in den vergangenen Jahren bei Aufklärung und Prävention in der Kirche gegeben hat. Er selbst sei mehrfach sogar von weltlichen Einrichtungen eingeladen worden, die sich Tipps und Hilfe im Umgang mit Missbrauch in ihren Reihen erhofften.
Doch auch sonst habe sich seit jenem Januartag vor 14 Jahren „viel bewegt“, Probleme würden offener angesprochen. „Die katholische Kirche ist bei der Prävention inzwischen gut aufgestellt“, stellt Pater Mertes fest. Konkret nennt er unabhängige Meldestellen, eine neue Beschwerdekultur und mehr Reflexion etwa über „Distanz und Nähe“ zu Schutzbefohlenen.
Dennoch – einen Schlussstrich werde es nie geben können. „Das bleibt ein lebenslanges Thema. Wir stehen als Katholiken in diesem Schatten“, sagt Pater Mertes. Auch verweist er auf den Missbrauch und dessen Vertuschung durch „systemisch begünstigende Faktoren“ in der Kirche.
Dies seien jene Themen, die nun Teil des Synodalen Weges sind, um die dort aber auch gerungen wird: Priesterliche Lebensformen, Sexualmoral, Machtstrukturen und die Rolle der Frau. Das Überwinden dieser Spaltungen werde, dieser Meinung ist Pater Mertes, „einen langen Atem brauchen“.