„Von guten Mächten wunderbar geborgen“

Die Reise in die Tiefe wagen

aufgeschlagenes Gotteslob vor zerstörter Stadtkulisse in der Ukraine

Fotomontage: imago/NurPhoto // Diana Heinrich

Bonhoeffers Verse will Kurt Grahl auch denen erschließen, die heute Erschütterung durchleben.

Vor 80 Jahren schrieb Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis der Gestapo sieben Verse an seine Verlobte und seine Familie. Mehr als siebzig Mal wurden diese Verse inzwischen vertont – unter anderem von dem Leipziger Komponisten Kurt Grahl.

„Von guten Mächten wunderbar geborgen – das ist kein Erlebnis im Walzertakt“, sagt Kurt Grahl. Mit seiner Vertonung von Dietrich Bonhoeffers bekanntestem Gedicht reagierte er 1976 auch auf die ältere, heute ebenfalls im Gotteslob vertretene Liedversion von Siegfried Fietz. An dieser Fassung stört den langjährigen Leipziger Propsteikantor vor allem der beschwingte Rhythmus. Der sei nicht stimmig für Bonhoeffers kraftvolles Bekenntnis zu Gottes Treue, das in den menschenverachtenden Erfahrungen der Nazi-Diktatur gewachsen ist. Unangemessen findet er auch, dass Fietz den siebten Vers des Gedichts zum Refrain gemacht hat. Kurt Grahl wollte eine Melodie schaffen, die das Herz der Sänger und Zuhörer mitnimmt auf den Weg Bonhoeffers in die Zerreißproben des Alltags, in die Stürme des Lebens, bis auch sie zur Ruhe kommen in Gottes Gegenwart. „Nur dann, wenn wir diese Reise in die Tiefe nicht scheuen, wird die Melodie der Hoffnung und der Zuversicht auch in unserem Leben diese Kraft entfalten können, die nur eine im Leiden geprüfte und gefestigte Glaubensbeziehung bieten kann“, heißt es im Begleittext zu einer Orgelimprovisation Kurt Grahls.

Bonhoeffer-Melodienprojekt

Vor einigen Monaten ist Eckhard Becker auf Grahls Melodie aufmerksam geworden. „Ich kannte lange nur die Vertonung von Siegfried Fietz“, sagt der evangelische Christ aus dem badischen Achern. Als Hobbymusiker hatte er sich auch an eigenen Variationen versucht. Da er eine Komposition bei youtube veröffentlicht hatte, zog ihn die Firma von Siegfried Fietz in einen Urheberrechtsstreit. Seine Version sei zu nah an der von Fietz, lautete der Vorwurf.

Porträt Kurt Grahl
Kurt Grahl

Dieses unangenehme Erlebnis war für Eckhard Becker der Anstoß, sich noch intensiver mit Bonhoeffers Gedicht zu beschäftigen. Für eine Online-Sammlung trug er Vertonungen zusammen, die vor und nach der Fietz-Version entstanden, angefangen mit der von Otto Abel aus dem Jahr 1959. Dabei vertiefte sich sein Eindruck, dass Gott durch das Lied auch ihn auf einen Weg führen wollte. „Den Segen, den ich auf meiner Reise mit diesem Lied erfahren habe, möchte ich anderen weitergeben“, sagt er. Auf seinem youtube-Kanal finden sich neben einer Übersicht der Vertonungen mit Klangbeispielen auch ältere Melodien, die Musiker für Bonhoeffers Gedicht nutzten. Interessiert hat Becker auch, wie der Text in andere Sprachen und Kulturen übertragen wurde. In seinem Melodien-Projekt finden sich Text- und Klangversionen aus Südamerika und China, den USA, Indien und Korea ...

„Gerade während der Corona-Zeit gaben Interpreten weltweit dieses Lied als Botschaft der Hoffnung und der Zuversicht weiter – meistens mit der populären Melodie von Fietz und einem unvollständigen englischen Text“, berichtet Becker. Er selbst fertigt eine neue Übersetzung ins Englische an. „Gerade für Länder, in denen Christen unterdrückt werden, sollte das Melodien-Projekt eine Bereicherung sein, denn gerade dort ist der Mut zum Bekenntnis und die Botschaft der Zuversicht so wichtig“, sagt er.

Die Melodien bringen für ihn immer wieder andere Facetten des Textes zum Leuchten. Die wertvollsten Impulse verdanke er dem Austausch mit Kurt Grahl, dessen gesamtes Schaffen von Bonhoeffer durchzogen ist. Erst jüngst sind die Noten seines Oratoriums zu Bonhoeffers 75. Todestag mit Texten von Claus-Peter-März im Leipziger Ebert-Verlag erschienen. Gerade Kurt Grahl habe ihm die Augen geöffnet für den seriösen Umgang mit dem Gedicht, betont Eckhard Becker. Besonders beeindruckt hat ihn die Lebenserfahrung, die er hinter der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Text erkennt: „Herrn Grahl ist in seinem persönlichen Leben dieser bittere Kelch nicht erspart geblieben, der als ,Schicksal‘ uns zerbrechen ließe, wo uns eine lebendige Beziehung zu Gott in seinen Armen zur Ruhe bringt, ohne am ,Warum‘ zu verzweifeln.“

Dorothee Wanzek