Nora Krugs "Deutsches Familienalbum"

Auf der Suche nach der verlorenen Heimat

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Heimat oder gar „Heimatliebe“ – für viele Deutsche ein schwieriger Begriff. Warum das so ist, darüber hat die  Illustratorin Nora Krug ein sehr persönliches Buch geschrieben. Und gemalt. Und collagiert.  Als Geschichtsforscherin ihrer eigenen Familie kommt sie zum Schluss: Heimat ist häufig das, was man verloren hat. Interview von Ruth Lehnen

Frage: Im Original heißt das Buch „Belonging“ – also Zugehörigkeit. Ist „Zugehörigkeit“ die eigentliche Übersetzung des Begriffs „Heimat“?

Nora Krug: Für mich schon. Heimat ist der Ort, mit dem man sich am meisten identifizieren kann, dem man sich zugehörig fühlt (oder fühlte). Es ist der Ort, an dem man glaubt, verstanden zu werden. Für jeden kann und soll der Heimatbegriff jedoch etwas Eigenes bedeuten. Eine statische Interpretation dieses Begriffs ist illusorisch und im Extremfall auch gefährlich. Die Nazis definierten Heimat als die Utopie eines exklusiven, sich nie im Wandel befindlichen Ortes ethnischer Reinheit. So zu tun – auch heute –, als hätte es jemals einen solchen Ort gegeben, ist historisch inkorrekt. Wie auch unsere Gesellschaft selbst muss sich der Heimatbegriff stetig im Wandel befinden.

Beim Lesen hat mich fasziniert, wie genau Sie die Gefühlslage vieler Deutschen treffen, die nach dem Krieg geboren wurden: Die Verbrechen der Nazis haben nicht nur einen so genannten Nationalstolz unmöglich gemacht, sondern auch die „Liebe zur Heimat“ vergiftet, so dass die nur noch in Anführungsstrichen möglich scheint.

Das Problem in Deutschland ist nach wie vor, dass man das Gefühl der Heimatliebe und vor allem den öffentlichen Ausdruck dieser Liebe und den kritischen Blick in die Vergangenheit als einen Widerspruch sieht. Man kann ein Land nicht nur für eine bestimmte Periode in der Geschichte lieben, genauso wenig, wie man es nur für eine bestimmte Menschengruppe lieben kann. Kritisch zurückzublicken und dennoch sein Land zu lieben, sollte kein Widerspruch sein. Da ich in der zweiten Generation nach Ende des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen bin, gehöre ich leider auch zu denen, die es Überwindung kostet, das Wort „Liebe“ in Zusammenhang mit meinem Heimatland zu verwenden. Die sehr stark schuldbeladene Erziehung in der Schule führte auch bei mir zu einem Gefühl von kultureller Desorientierung. Durch meinen mittlerweile 20 Jahre anhaltenden Aufenthalt im Ausland hat mein eigener Heimatbegriff zusätzlich verschwommene Konturen angenommen. Sich an das Land anzupassen, in dem man lebt, ist ein Überlebensinstinkt, und ich sehe darin keinen Verlust, denn es bereichert für mich mein Heimatverständnis. Für mich ist Heimat etwas, das ich stark mit meiner Kindheit verbinde – etwas, dessen Existenz ich mir erst bewusst wurde, nachdem ich es verloren hatte.

Es fällt auf, wie oft in den Illustrationen der leidende und blutende Jesus vorkommt, aber nur als Figur am Straßenrand. Ist das ein Zufall?

Obwohl ich katholisch erzogen bin, habe ich heute selbst keinen starken Bezug mehr zur Religiosität. Dennoch fühle ich mich den christlichen und menschlichen Werten, mit denen ich aufgewachsen bin, sehr verbunden. Während der Arbeit am Buch versuchte ich die stark durch den Katholizismus geprägte Region, aus der mein Vater stammt, zu verstehen. In diesem Zusammenhang recherchierte ich auch die Art und Weise, auf die der christliche Glaube durch die Jahrhunderte hindurch visualisiert wurde. Die Landschaft um die Heimatstadt meines Vaters herum ist geprägt von alten Flurkreuzen und anderen Erinnerungsstücken, die den durch Jahrhunderte gelebten Glauben bezeugen.

Besonders interessierte ich mich für die visuellen Schnittstellen, bei denen religiöse und politische Geschehnisse in den Köpfen der Menschen zu verschwimmen schienen. Zum Beispiel die Erzählung meiner Großmutter Maria, deren Sohn Franz-Karl ihr in einer Vision erschienen war, kurz nachdem er als 18-Jähriger an der Südfront gefallen war. Oder das in Stein gemeißelte Abbild des heiligen Arnold von Uissigheim – das war ein mittelalterlicher Ritter, der ganze jüdische Gemeinden in der Region ausrottete. Sein Abbild ist noch immer in der Kirche von Uissigheim ausgestellt. Jahrhundertelang schabten Einwohner aus der Region Steinstaub der Heiligenfigur ab und fütterten damit ihr Vieh, in der Hoffnung, damit tödliche Tierkrankheiten zu bekämpfen. Die Hauptstraße Uissigheims ist leider noch heute nach diesem mörderischen Ritter benannt.

Ein zentrales Stichwort für Sie ist „Empathie“. Wenn Sie alles genau erforscht haben, jede Frage gestellt haben, dann, so scheint es, ist das Mitgefühl erlaubt mit den im Krieg Gefallenen.

Ich glaube, dass wir als Deutsche der „dritten Generation“ mit einer Art von kollektivem Schuldgefühl aufgewachsen sind, das Verlustgefühle gegenüber den Opfern auf deutscher Seite kategorisch ausschloss. Diese paralysierende Schuld hinderte uns auch daran, individuell Verantwortung für die Taten unserer Großeltern zu übernehmen – auch wenn das nur bedeutete, zu recherchieren, wie diese sich unter dem Nazi-Regime verhalten hatten. Wenn man diese Verantwortung auf sich nimmt, und alles recherchiert, was es zu recherchieren gibt, alle Fragen stellt, die zu fragen sind, dann muss es auch möglich sein, Trauer über den Verlust eines Familienmitglieds zu empfinden, das in der Wehrmacht gekämpft hat.
Während meiner Arbeit am Buch bin ich aber auch oft auf die Grenzen meiner Empathie gestoßen. „Gefallene“ ist ein sehr breiter Begriff, der sowohl Menschen umfasst, die aktiv an unverzeihlichen Kriegsverbrechen beteiligt waren, als auch welche, die mit dem überzeugten Glauben an eine moralische Integrität in den Krieg zogen. Ich kann also kein universelles Gefühl der Empathie für alle deutschen Gefallenen empfinden.

Illustration ist für Sie ein politisches Medium. Was können die Bilder, was Text nicht kann?

Bilder verschaffen einen unvermittelten emotionalen Zugang zu historischen und politischen Geschehnissen. Aus diesem Grunde wurden sie auch schon immer als propagandistisches Medium missbraucht – anti-semitische Darstellungen wie die der sogenannten „Judensau“ schon zu Beginn des Mittelalters dienen als erschütterndes Beispiel. Als Illustrator muss man sich heute dieses politischen Erbes bewusst sein und verantwortungsbewusst Bilder schaffen, die zu einem stärkeren Verständnis von Empathie und Toleranz beitragen.

Nora Krug: Heimat. Ein deutsches Familienalbum. Penguin Verlag, durchgängig illustriert, 288 Seiten, 28 Euro

Ruth Lehnen