Gedanken zum Neuen Jahr von Schwester Philippa Rath
Christliches Leben heißt anfangen
„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“, schrieb Hermann Hesse einst in seinem berühmten Stufen-Gedicht. Der Beginn eines neuen Jahres lädt dazu ein, dem Geheimnis des Anfangens einmal nachzuspüren. Schwester Philippa Rath, Benediktinerin der Abtei St. Hildegard in Rüdesheim-Eibingen, begibt sich auf Spurensuche – in der Heiligen Schrift und in der Benediktsregel – und macht darin erstaunliche Entdeckungen.
Im ersten Kapitel des ersten Buches der Heiligen Schrift und im letzten Kapitel des letzten Buches der Bibel ist vom „Anfang“ die Rede: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, so sagt uns das Buch Genesis (Genesis 1,1). Und am Schluss, in der Offenbarung des Johannes, spricht Gott selbst direkt zu uns: „Siehe, ich komme bald. Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ (Apokalypse 22, 13). In einem großen, geradezu kosmischen Bogen ist hier die ganze Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Vollendung in diesem einen Wort vom „Anfang“ zusammengefasst – ein grandioses Szenarium eröffnet sich uns da.
Unseren Anfang setzen wir uns nicht selbst – wir wurden angefangen sozusagen, hineingeboren in eine Welt, die schon war. Gott selbst hat uns ins Dasein gerufen, hat uns unseren Anfang geschenkt – aus reiner Gnade und allein aus Liebe. Dieser Anfang aber ist kein einmaliges Geschehen – das ist das Großartige an ihm. Es ist ein Prozess, ein ewiges und immer neues Wachsen und Reifen von Anfang zu Anfang.
Der jüdische Schriftsteller Felix Braun hat das in einem wunderbaren Gedicht mit dem Titel „Ewigkeit“ einst so beschrieben:
„Uralt bin ich – vom Anfang komm ich her –
Nun müd von tausendfältiger Gestalt.
Mein Los ist: jedes Blatt zu sein im Wald.
Mein Los ist: jede Welle sein im Meer.
Ich leb von Anfang zu Anfang,
von Wiederkehr zu Wiederkehr.
Nehm stets im andern Atem Aufenthalt.
So leb ich schwebend: weder hier noch dort.
Und schaudre, dass ich mich so oft verlor
Und immer wieder fand: in diesem Wort.
Von Anfang zu Anfang bis in Ewigkeit.“
Unüberhörbar sind in diesem Gedicht die Anklänge an die Doxologie, die wir und die ganze Kirche Tag für Tag so oft und immer wieder beten: „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist – wie es war im Anfang so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen.“ Kein geringerer als der dreifaltige Gott selbst ist unser Anfang und unser Ziel, unsere Sehnsucht und unsere Erfüllung, unsere Zeit und unsere Ewigkeit. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“, im Anfang auch, so heißt es im Prolog zum Johannesevangelium „Im Anfang war das Wort“, das Leben spendende Wort, das mensch-gewordene Wort Jesus Christus. Und auch die Heilige Geistkraft, so berichtet es die Apostelgeschichte (im Kapitel 11,15) „kam von Anfang an auf uns herab“, so wie einst im Anfang Gottes Geist über den Wassern schwebte (Genesis 1,2).
Beim Blick auf den lateinischen Bibeltext fällt auf, dass es zwei Begriffe für „Anfang“ gibt: „initium“ und „principium“. Initium ist immer der einmalig gesetzte Anfang – principium aber der Anfang, der sich wie ein roter Faden durch die ganze Schöpfungs- und Erlösungsgeschichte hindurchzieht, der immer wieder neu zum Aufbruch einlädt, der Gottes Anfang sozusagen zum Seinsprinzip werden lässt: „sicut erat in principio et nunc et semper, et in saecula saeculorum“.
Ebenso wie die Heilige Schrift so ist auch die Regel des heiligen Benedikt, nach der ich lebe, vom „Anfangen“ umfangen. Im ersten und im letzten Kapitel der Benediktsregel ist vom Anfang die Rede. Im Prolog, Vers 4, heißt es: „Sooft du etwas Gutes zu tun beginnst [das heißt: anfängst], bitte zuerst inständig darum, dass er [Gott] es vollende“. Hier ist er wieder, der Gedanke, dass wir es aus eigener Kraft nicht vermögen, dass allein die Gnade Gottes uns zum Anfangen bewegt, und dass nur Er allein es ist, der unser Tun vollenden kann. Wir sind und bleiben auf Gottes vorausgehende Liebe und auf seine Hilfe angewiesen. Die Spannung zwischen der Freiheit des Menschen und seinem Angewiesensein auf die Barmherzigkeit Gottes bleibt immer bestehen.
Im letzten, dem 73. Kapitel seiner Regel, sagt der heilige Benedikt: „Diese bescheidene Regel haben wir für Anfänger geschrieben“ (RB 73,8), damit wir durch ihre Beobachtung „einen Anfang im klösterlichen Leben bekunden“ (RB 73,1). Zweimal ist hier am Schluss noch einmal vom Anfangen die Rede, fast so, als solle sich ein geheimnisvoller Kreislauf vollenden. Diesen geheimnisvollen Kreislauf hat eine bekannte Mitschwester, die Schweizer Nonne und Dichterin Silja Walter (1919 bis 2011), einmal in einem kurzen Gedicht beschrieben:
„ANFANG
Habe ich also die Regel
bis ans Ende gelebt,
dann bin ich ein vollendeter
Anfänger oder endlich ein
Anfänger geworden, endlich
nichts als ein aus dem
Anfang lebender Mensch.“
Sie waren auch nur Anfänger: Menschen der Bibel als Leitbilder des Anfangs
Betrachten wir nun in einem zweiten Schritt einige biblische Gestalten des Anfangs. In den Menschen, die im Alten Testament Jahwe und im Neuen Testament Jesus begegnen, bricht etwas auf. Die Begegnung mit dem lebendigen Gott fordert sie heraus, öffnet sie für ein neues Leben, ja macht sie zu neuen Menschen. Der Anfang, den die Begegnung mit Gott und mit Jesus Christus, seinem Sohn, in Menschen bewirkt, ist immer zugleich Scheidung und Entscheidung. Eine ganze Bandbreite von Reaktionen – von der Hingabe und Nachfolge bis zum Zweifel und zur völligen Ablehnung – findet sich in der Heiligen Schrift. Es gibt viele Möglichkeiten anzufangen – oder auch, den Anfang zu verpassen. In der ein oder anderen Gestalt des Anfängers können wir uns selbst vielleicht wiederfinden. Vielleicht können wir von diesen Menschen, die vor uns anfingen, auch lernen, können uns Mut zusprechen lassen, den Aufbruch immer neu zu wagen.
Zu den ganz großen Gestalten des Anfangs gehört Abraham. „Zieh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich will dich zu einem großen Volk machen. Ich will dich segnen und deinen Namen großmachen. Du sollst ein Segen sein ... Da zog Abraham fort, wie ihm Jahwe befohlen hatte (Genesis 12,1-4).
Ein eindeutiger und unkomplizierter Anfang: dem Ruf Gottes folgt die Tat, ohne Zögern und Zaudern. Abraham glaubte dem Anruf Gottes und glaubte der Verheißung, die an ihn erging. Und er machte sich auf den Weg – obwohl er bereits 75 Jahre alt war.
Wer weiß: Vielleicht hat er wie später nach ihm der greise Simeon oder die alte Witwe Hanna sein Leben lang auf diesen Anruf gewartet. Und heute und jetzt ist er bereit, sich auf den Weg zu machen und alle Sicherungen des Lebens hinter sich zu lassen. Zum Anfangen gehört das Loslassen, das Hinter-sich-Lassen. Wer einmal die Hand an den Pflug gelegt hat, soll nicht zurückschauen.
Der Anfang des Propheten Jeremia könnte fast eine Art Gegenbild zu dem des Abraham sein. Jahwes Wort und Ruf erging an Jeremia – und dieser hat Angst: „Ach, Herr, ich weiß nicht zu reden, ich bin zu jung“. Er traut es sich nicht zu, er zögert und er verhandelt mit Jahwe, seinem Gott. Zweimal muss Jahwe ihm sagen: „Hab keine Angst, fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir.“ (Jeremia 1,8; 1,17). Erst danach begreift Jeremia, was an ihm geschehen ist, und lässt sich in Dienst nehmen. Ein Prophet wider willen, könnte man sagen – ein Anfänger, dem zuerst einmal das Wörtchen „Aber“ über die Lippen kommt, weil er ob seines jugendlichen Alters unsicher, vielleicht auch schüchtern ist und wenig Selbstbewusstsein hat. Vielen von uns mag Jeremia mit seinen Zweifeln zunächst näherliegen als Abraham, der so unzweideutig und souverän den neuen Anfang gewagt hat. Doch nicht das Alter ist entscheidend, sondern der Ruf des Herrn, der jedem Anfang vorausgeht. Wen Gott ruft, dem gibt er auch die Kraft zum Anfangen – gegen alle Angst und gegen alle inneren Widerstände.
Gott gibt die Kraft zum Anfangen, aber er übt keinen Zwang aus. Unsere menschliche Freiheit reicht so weit, dass wir auch Nein sagen und den Anfang verweigern können. Dafür ist der reiche Jüngling ein sprechendes Beispiel. Was Jesus vom reichen Jüngling erwartet, ist nicht nur viel, sondern alles: „Geh, verkaufe alles, was du hast ... dann komm und folge mir nach.“ – „Er hatte ein großes Vermögen“, heißt es dann. Und dieses Vermögen war sicher nicht nur Geld. Besitzen können wir ja unendlich vieles: Einfluss, Ansehen, Macht, bestimmte Fähigkeiten, Beziehungen, eine soziale Stellung. Dies alles aufzugeben und neu anzufangen ist unendlich schwer. Auch dann, wenn wir wirklich auf der Suche sind. Der reiche Jüngling war ein Suchender, der im Grunde genommen kurz vor dem Durchbruch stand. Das hat Jesus gewusst. Denn nicht umsonst heißt es ja: „Da sah Jesus ihn an, und weil er ihn liebte, sagte er: eines fehlt dir noch ...“ Echte Liebe fordert Ganzhingabe. Sie kann sich nicht mit Halbheiten zufriedengeben. Der reiche Jüngling geht traurig weg. Er will neu werden, kann aber vom Alten nicht lassen. So verpasst er den Kairos, den Anfang eines neuen Lebens. Fragen wir uns, was wohl das eine ist, das uns noch fehlt. Wenn wir wirklich anfangen wollen, dann müssen wir dieses Eine herausfinden und uns Stück für Stück von ihm zu lösen versuchen.
Petrus ist in vieler Hinsicht eine typische Anfangs-Gestalt. Schon bei seiner Berufung am See von Galiläa hat er gezeigt, dass er ein Mann der schnellen Entschlüsse war. Jesus ruft, und Petrus und sein Bruder Andreas lassen buchstäblich alles stehen und liegen und folgen dem Herrn. Menschen, die spontan Ja sagen und sich bereitwillig engagieren, sind herzerfrischend. Manche mögen sich fragen: Ist solch ein Anfang überhaupt zu verantworten? Doch täuschen wir uns nicht: Nicht jeder schnelle Entschluss und spontane Anfang wird später bereut – dafür gibt durchaus eindrucksvolle Beispiele. Auch Petrus hat seinen Anfang in Galiläa nie bereut. Aber er hat im Laufe seines Weges der Nachfolge den ein oder anderen „Dämpfer“ erhalten.
So bei seinem nächtlichen Gang über den See. Voller Begeisterung stieg er da aus dem Boot und wollte seinem Herrn und Meister auf dem Wasser entgegengehen. „Als er aber sah, wie heftig der Wind war, bekam er Angst und begann unterzugehen.“ Übermut und Leichtsinn hatten ihn gepackt, er hatte sich zuviel zugetraut. Dem Sturm, womöglich dem Gegenwind, war er nicht gewachsen. Und dann kam die Angst, und die Hochgemutheit des Anfangs war wie weggeblasen. Warum habe ich das alles nur angefangen, mag er sich gefragt haben. Wer einen Anfang macht, muss auch den Mut haben, Schluss zu machen, wenn er erkennt, dass er sich geirrt oder verrannt hat. Petrus hatte diesen Mut und war auch nicht zu stolz, seinen Herrn um Hilfe anzuflehen. „Jesus streckte sofort die Hand aus und ergriff ihn“ – Gott rettet uns, wenn wir uns verrannt haben – wir müssen ihn nur darum bitten.
Als letzte möchte ich die Gottesmutter Maria als Leitgestalt des Anfangs benennen. In dem Wort „Mir geschehe“ sind Marias Anfang und ihr weiterer Lebensweg als Erfüllung dieses Anfangs eingeschlossen. Gott ist es, der den Anfang macht, der Maria erwählt und für würdig hält, seinen Sohn zur Welt zu bringen. Maria wird von Gott direkt angesprochen und ganz – mit Leib und Seele – eingefordert. Die Verheißung des Engels aber bedarf des „Fiat“, der Zustimmung, des Vertrauens und der Annahme dieses neuen Anfangs. Maria hat die Größe und die Demut zugleich, sich dem Unglaublichen zu öffnen und ihre menschliche Freiheit in den Dienst des göttlichen Heilsplanes zu stellen. Darin liegt ihre einzigartige Würde. Darin liegt aber auch die Zusage, dass jedes von einem Menschen gesprochene „Fiat“ einen neuen und ewigen Anfang eröffnet, der uns die Erfüllung all unserer Sehnsucht verheißt. Die Gottesmutter kann uns dabei ein Vorbild sein. Es gilt, den neuen Anfang immer dann zu entdecken, wenn es uns gelingt, die eigene Lebensplanung loszulassen und einzuwilligen in den Lebensplan Gottes mit uns. Das ist eine lebenslange Aufgabe.
Haben Sie sich wiedererkannt in einem dieser Anfänger, vielleicht sogar in mehreren? Die Ähnlichkeiten zwischen den Menschen der Bibel und uns Heutigen sind manchmal frappierend. Wahrscheinlich war das zu allen Zeiten so, denn die Bibel will ja im jeweiligen Heute gelesen und verstanden werden. Sie hält uns den Spiegel Gottes vor, der uns weiter voran kommen lässt auf unserem Weg der Menschwerdung.
Bleiben als Brücke zwischen Anfang und Ziel
Kein Anfang ohne Ende, kein Aufbruch ohne Vollendung. Seinen Sinn erhält der Anfang durch das Ziel, der Heimkehr zu Gott. Unser ganzes Leben und Streben, so sagt der heilige Benedikt, ist dieser Weg der Heimkehr zum Vater. Er weist auch auf die Grundhaltungen hin, die notwendig sind, um vom guten Anfang zum Ziel zu gelangen. Allen voran nennt er das Bleiben, die Treue, das Standhalten, die Beständigkeit. Der Weg, so sagt er ganz nüchtern, „kann am Anfang nicht anders als eng sein“ (Prolog 48). Beliebiges Aufhören, immer wieder nach Neuem Ausschau-Halten verhindert den Durchbruch zum Ziel. So ist das Bleiben der Garant des Anfangens.
Die Heilige Schrift ist voll von Geschichten über Menschen, die treu geblieben sind und ausgeharrt haben. An ihnen wird deutlich, was das Bleiben als Brücke zwischen dem Anfangen und dem Ziel bedeutet. Im Alten Testament etwa die Gestalt der Rut, die ihrer Schwiegermutter zusagt: „Wohin du gehst, dahin gehe auch ich. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.“ (Rut 1,16). Im Neuen Testament dann der große Bleibende, Joseph, der treu blieb, auch als er nicht verstand. Dann natürlich Maria, die geblieben ist und zusammen mit den anderen Frauen ihrem Sohn folgte bis unter das Kreuz. Sie alle können Vorbild und Ansporn sein auf dem Weg vom Anfang zum Ziel. Dem Bleibenden gilt am Ende die Verheißung Jesu: „Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht“ (Johannes 15,4-9).
Es gibt einen sehr schönen Text von Dom Helder Câmara, der das Beginnen und das Bleiben wunderbar miteinander vereint:
„Es ist eine göttliche Gnade,
gut zu beginnen.
Es ist eine größere Gnade
auf dem Weg zu bleiben
und den Rhythmus nicht zu verlieren.
Aber die Gnade aller Gnaden ist es
sich nicht zu beugen und,
ob zerbrochen und erschöpft,
vorwärts zu gehen bis zum Ziel.“
Anfang und Ende liegen nicht in unserer Macht, sie sind Geschenk dessen, der allein Anfang und Ende, Alpha und Omega ist und der in uns vollendet, was er selbst begonnen hat. In diesem Sinne gilt es, sich auf den Weg zu machen und täglich neu anzufangen: als einzelne und als ganze Kirche.
Ein gesegnetes und gutes neues Jahr!