Wenn Nachbarn ihren Glauben leben

"Das Ethik-Eck": Muezzin-Ruf

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Die Frage lautet diesmal: „In unserer Stadt soll es bald auch den Muezzin-Ruf per Lautsprecher geben. Einer unserer Freunde schäumt vor Wut: In Saudi-Arabien und anderswo in Nahost dürften Kirchenglocken auch nicht läuten. Deshalb will er es „denen“ hierzulande „heimzahlen“. Darf man das gegeneinander aufrechnen?“


Gleichheit und Freiheit
Meine erste Erfahrung mit dem Muezzin-Ruf war recht spät mit 18 Jahren in einem Praktikum nach dem Abitur in Tansania. Dort lebte ich zum ersten Mal neben einem der Lautsprecher, aus dem der Muezzin-Ruf fünf Mal am Tag à drei Minuten erschallte. Der Muezzin, ein meist wegen seiner guten Stimme gewählter Mann, trägt den Gebetsruf „Adhan“ in arabischer Sprache vor, der von der Größe Gottes spricht und zum Gebet aufruft. Ja, daran musste ich mich gewöhnen – aber: In der letzten Woche der drei Monate habe ich wenig darüber nachgedacht, weil es ein normaler Teil meiner Umgebung geworden war. 


Bernadette Wahl
hat Theologie und Religionspädagogik
studiert, ist systemische Beraterin
und arbeitet für das Bistum Fulda
in der Citypastoral.

Das kirchliche Glockengeläut erinnerte früher an das Stundengebet in Klöstern und wies – bevor es Telefon, Radio und Internet gab – auf Gefahren hin. Heute läutet es, um zum Gottesdienst einzuladen, bei der Wandlung, um Zeit anzuzeigen, bei Todesfällen und Beerdigungen. Die gängige Ausnahme ist eine bestimmte Zeit in der Karwoche bis zum Gloria in der Osternacht. Das Grundrecht der Religionsfreiheit schützt das Geläut rechtlich als Religionsausübung. Jede Kirchengemeinde kann ihre eigene Läuteordnung innerhalb der gesetzlichen Emissionsordnungen selbst festlegen und braucht dafür keine besondere Genehmigung. 
Ein gelungenes Beispiel für die Ausübung dieser Freiheit ist Pfarrer Franz Meurer aus Köln. Er legte im Sinn guter Nachbarschaft fest,   dass   die   Glocken   um   6 Uhr ab sofort nicht mehr läuten  sollen,  als  er  erfuhr, dass  ein  Nachbar, dessen Wohnung im Hochhaus nur wenige Meter neben dem Glockenturm liegt, nachts in  einem  Club  arbeitet   und   um   5  Uhr  morgens  verständlicherweise nach  seinem Feierabend  schlafen möchte. 
Der Freund in unserer Ausgangsfrage führt eine auffällige Einteilung von „denen“ und „uns“ ein. Die Kombination von „denen“ und „hierzulande“ im Kontext von öffentlichen Gebetsaufrufen lässt darauf schließen, dass er die deutsche Gesellschaft als christlich geprägt definiert. Davon grenzt er arabisch-muslimisch geprägte Länder ab. 
Das geforderte „Aufrechnen durch Verbot“ ist in Deutschland rechtlich keine Option und insbesondere durch Artikel drei und vier im Grundgesetz, die die Gleichheit aller Menschen und die Freiheit des Glaubens schützen, geregelt.

 

Es verändert sich
Unlängst sah ich ein Foto in einer Zeitung: die Türme des Kölner Doms und gleich daneben das Minarett einer Moschee. Es war sicher ein besonderer Winkel, der hier beim Fotografieren gewählt wurde, aber das Bild zeigt auch eine Realität. Christen und Muslime leben und beten bei uns nebeneinander (genauso wie noch viele andere Menschen mit und ohne Bekenntnis).


Ruth Bornhofen-Wentzel
war Leiterin der Ehe- und
Sexualberatung im Haus der
Volksarbeit in Frankfurt.

Es hat sich viel verändert in den letzten Jahrzehnten. Das Geläut der Glocken ist wie vieles andere nicht mehr selbstverständlich. Vertraut Kirchliches und Christliches schwindet, anderes sucht seinen Platz. Auch der muslimische Glaube. Er scheint oft besonders fremd. Es stellen sich Bilder von Gewalt und Unterdrückung ein, er weckt Misstrauen, wird schlecht verstanden, abgelehnt, scheint so anders. 
Fremdes weckt nun mal Affekte und Abwehr, heftige Gefühle. 
Was steckt hinter der Wut, die hier in der Frage geäußert wird?
Vielleicht zuerst mal ein Gefühl von großem Verlust. Die christlichen Kirchen scheinen nicht mehr öffentlich präsent, immer weniger bedeutsam, gesellschaftlich und für den Einzelnen. Das tut weh. Und es scheint, als ob Muslime ihren Glauben viel selbstverständlicher und öffentlicher leben, wenn eine Moschee eröffnet, der Ramadan gehalten wird, der Gebetsruf zu hören wäre.
Was für mich persönlich wichtig und prägend ist, nicht mehr mit vielen teilen zu können, oder gar zu verlieren, ist ein großer Schmerz. Das kann verunsichern, traurig machen und ohnmächtig. 
Was tun? Ich kann mich in der neuen Realität zurecht finden oder mir helfen, indem ich diese Gefühle scheinbar überspringe. Zornig werde, dagegen kämpfe. Wenn ich mir einen Feind suche, geht es seelisch einfacher. Wir sind hier die, die Rechte haben, das sind die da, die anderen und die dürfen das nicht. Wenn ich denen eins auswische, könnte es mir besser gehen.
Es ist ein Wunsch, dass damit alles geordnet und vertraut bleibt und damit gut und sicher ist. Verständlich, aber schade! Und es hilft ja nicht wirklich, es wird so nicht besser.
Und es geht ja auch nicht um Saudi-Arabien und darum, dass es andere auch falsch machen. Es geht um den Nachbarn, die Nachbarin, die ihren Glauben lebt, zum Beten geht und dazu gerufen wird. 
Und dass unsere Gesellschaft sich weiter verändern wird. Und wir nicht umhin kommen, uns mit diesen Veränderungen zu befassen. Und dann manches Gute entdecken und manches Schwierige – allerdings auf beiden Seiten und möglichst gemeinsam.
 

Geschenk an die Welt

Seit einigen Wochen ertönt in einem Kölner Stadtteil zum Freitagsgebet der Ruf eines Muezzins. Die Auflagen sind recht streng: Der Ruf ist auf fünf Minuten zu begrenzen und darf eine bestimmte Lautstärke nicht überschreiten. Zudem, so wird berichtet, war vorher die Nachbarschaft zu informieren und für mögliche Beschwerden eine Ansprechperson zu benennen. Städtische und kirchliche Vertreter:innen verweisen auf die Religionsfreiheit, um die Erlaubnis des Muezzinrufs zu begründen. 


Stephan Goertz
Professor für Moraltheologie 
an der Universität Mainz.

Weil die Ausübung der eigenen Religion ein wichtiger Bestandteil der freien Entfaltung der Persönlichkeit ist, darf sie der Staat nicht unterbinden, solange dabei die Grundrechte der anderen respektiert werden. 
Die katholische Kirche bekennt sich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 bis 1965) ohne Wenn und Aber zur Religionsfreiheit, weil die menschliche Würde Freiheit zur Ausübung in religiösen Belangen gebietet. Die Erklärung, die dies feststellt, ist die vielleicht bedeutendste der katholischen Kirche im 20. Jahrhundert. Der frühere Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat in diesem Zusammenhang von einem Geschenk an die Welt gesprochen. 
Die Tatsache, dass in einer islamisch geprägten Gesellschaft den christlichen Kirchen nicht alle Rechte zugestanden werden, wie es die Religionsfreiheit als Menschenrecht verlangt, ist für mich kein überzeugender Einwand gegen die neue Praxis in Köln. Den Muezzinruf zu verbieten, weil in anderen Ländern keine Kirchenglocken läuten dürfen, hieße ja, auf Unrecht mit Unrecht zu reagieren. Die Goldene Regel weist in eine andere Richtung: Was Du nicht willst, dass man Dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu. 
Es geht um die Gewinnung einer unparteilichen Haltung. Wenn Religionsfreiheit herrschen soll – und das ist katholische Lehre –, dann gilt sie für alle und nicht nur für die eigene Glaubensgemeinschaft. Sich für die Religionsfreiheit anderer einzusetzen, ist daher die katholische Option. 
Die Verletzung der Religionsfreiheit von Christ:innen ist ebenfalls inakzeptabel, egal, wo sie stattfindet. Glaubwürdigkeit erlangt diese Forderung, wenn sie nicht ausschließlich im eigenen Interesse erhoben wird. Die Zeiten, in denen die katholische Kirche für sich religiöse Sonderrechte beanspruchte, sind gottlob vorbei.