Jahresserie 2018 - „Heimat – Wie im Himmel, so auf Erden“
„Das ist nicht mehr der Ostblock“
Heimat – „wie im Himmel, so auf Erden“: In der fünften Folge der Jahresserie geht es um „Geschichte(n) der Heimatvertriebenen“. Welche Beziehung haben die hier geborenen Kinder zu der „alten Heimat“ von Eltern und Großeltern? Martin Neudörfl aus Gambach sagt: Seine Heimat ist da, wo er geboren ist: in Mittelhessen. Sein Zuhause dort, wo er lebt: in Berlin.
Er ist unterwegs in ganz Europa, kommt gerade aus Barcelona zurück. Fast alle großen Stadien und Messehallen kennt er aus der Vogelperspektive. „Ich habe den besten Job der Welt“, sagt Martin Neudörfl. Der 35-Jährige ist selbstständig, hat Veranstaltungstechnik und -management studiert, plant und organisiert Projekte. Martin Neudörfl ist Rigger. Das heißt, er sitzt in 45 Metern Höhe auf einem Stahlträger und ist verantwortlich dafür, dass die Technik bei Messen, Konzerten und Fußballmeisterschaften reibungslos funktioniert.
Zuhause ist er seit zwölf Jahren in Berlin, „aber meine Heimat ist das nicht“. Heimat, das ist für ihn Mittelhessen, da, wo er geboren und aufgewachsen ist, da, wo ihn seine Freunde „Holle“ nennen. „Der Spitzname leitet sich ab von Holle Honig, dem Bären, eine meiner Lieblingsfiguren aus der Kindheit“, erläutert er schmunzelnd.
Wir treffen uns in seinem Elternhaus in Gambach, um darüber zu sprechen, was für ihn „Heimat“ ist. „Wenn ich von Berlin aus Richtung Wetterau losfahre, ist das für mich eine Fahrt in die Heimat. In Berlin fühle ich mich zuhause, aber das geht mir auch in Barcelona so, wenn ich dort vier Wochen an einem Stück verbringe. Doch zuhause, das ist etwas ganz anderes als Heimat. Meine Heimat wird immer Gambach bleiben“, unter-streicht Martin Neudörfl.
Doch die Wurzeln seiner Eltern und Großeltern liegen nicht in der Wetterau, sondern in Mähren (Olmütz) und dem Sudetenland. Von dort wurde sein Vater 1946 vertrieben; seine Mutter, Tochter von Heimatvertriebenen, wurde nach der Flucht 1948 in Mittelhessen geboren. Wolfgang Neudörfl und seine Frau Heidelinde haben den Kontakt in die „alte Heimat“ lebendig gehalten. „Nach der Vertreibung habe ich erstmals 1963/64 eine tschechische Tante in der alten Heimat besucht“, erzählt Vater Wolfgang (80). „Seitdem waren meine Frau und ich regelmäßig dort, zuletzt vor zwei Jahren.“
„Im Herzen“, sagen beide, „bleiben wir noch heute der alten Heimat verbunden. Wir haben immer den Erzählungen unserer Eltern zugehört, immer wieder von daheim erzählt.“ Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, „begleitet das ein Leben lang“, betont Heidelinde Neudörfl.
Sohn Martin hat dieses Schicksal nicht erlebt, ihn verbindet kein Heimatgefühl mit Mähren und dem Sudetenland. „Für mich ist das Tschechien“, sagt er, „doch Tschechien ist für mich etwas Besonderes.“ In den 1990-er Jahren, als Kind, war er mit seinen Eltern zum ersten Mal dort. Und kam enttäuscht zurück: „Mein erster Eindruck war: einfach schrecklich! Ständig lag schwerer Braunkohledunst in der Luft.“ Damals hat er sein erstes Wort auf Tschechisch gelernt: „Zmrzlina, Speiseeis“, erinnert er sich. Etliche Jahre später, 2008, haben er und seine ältere Schwester Ute den Eltern eine Reise „zu den Wurzeln“ geschenkt, mit ihnen gemeinsam Prag, Mährisch-Ostrau, Olmütz und Brünn besucht.
Inzwischen hatte sich sein Verhältnis zu Tschechien deutlich verbessert: dank der Jungen Aktion, dem Jugendverband der Ackermann-Gemeinde, die ihm durch seine Eltern vertraut war. Martin Neudörfl lernte Prag, die tschechische Hauptstadt, kennen und lieben. Er begann sofort, Tschechisch zu lernen – „gemeinsam mit meinem Papa, aber du hast das dann ja bald wieder aufgegeben“, neckt er seinen Vater.
2005 hat Martin Neudörfl nach seiner Ausbildung zum Veranstaltungstechniker ein halbes Jahr in Prag verbracht und seine Sprachkenntnisse an der Karls-Universität verbessert. „Gemeinsam mit Vietnamesen und Franzosen“, erinnert er sich. Anschließend hat er ein Praktikum in einem veranstaltungstechnischen Betrieb absolviert. „Kaum jemand sprach Englisch oder Deutsch. Das war anfänglich eine harte Zeit für mich, schlussendlich aber auch eine sehr glückliche“, unterstreicht der 35-Jährige. „Denn ich habe gelernt, wie viel Selbstvertrauen ich daraus ziehen kann, eine fremde Sprache zu beherrschen.“
In Tschechien fühlt sich Martin Neudörfl heute zuhause. „Wenn ich dort Freunde besuche, bin ich willkommen. Da wird immer gleich Bier und Essen auf den Tisch gestellt“, erzählt er. Freunde hat er dort seit dem Jahr 2000, seit seiner ersten Veranstaltung der Jungen Aktion mit jungen Tschechen. „Ich stellte fest: Das sind ganz normale Jugendliche, genauso cool wie wir, sie hören dieselbe Musik, haben dieselben Träume. Das hier ist nicht mehr der Ostblock!“
Ein knappes Jahrzehnt lang ist Martin Neudörfl in den folgenden Jahren in der Jungen Aktion aktiv. 2003 ist er zum ersten Mal mitverantwortlich für eine Veranstaltung, er engagiert sich von 2005 bis 2011 im Bundesvorstand und ist ab 2009 für zwei Jahre Bundessprecher des Jugendverbands der Ackermann-Gemeinde. Neudörfl organisiert und leitet viele internationale Begegnungen – mit Polen, Tschechen, Griechen, Slowaken, Russlanddeutschen.
Das Ziel der Jungen Aktion heißt Integration. „Einer ihrer Leitsätze ist ein Europa der Menschen“, betont Neudörfl, „denn gerade Jugendliche haben die besondere Chance und Aufgabe, an einer gemeinsamen Zukunft Europas zu bauen, zu mehr Menschlichkeit und Frieden beizutragen.“ Europa sei auch das Traumziel der Menschen hinter dem Eisernen Vorhang gewesen. Er habe der Jungen Aktion viel zu verdanken, sagt deren früherer Bundessprecher, „vor allem Toleranz, Solidarität, Freundschaften, die bis heute halten. Die Nationalität spielt dabei keine Rolle, sondern die Gemeinschaft. Denn so unterschiedlich sind wir ja gar nicht.“
2017 hat das Europäische Parlament die Junge Aktion der Ackermann-Gemeinde mit dem Europäischen Bürgerpreis ausgezeichnet – „für außergewöhnliches Engagement von Einzelpersonen oder Projekten, die das gegenseitige Verständnis und die Integration Europas fördern“, heißt es in der Begründung. Menschen wie Martin Neudörfl tragen dazu bei. „Ohne die Junge Aktion wäre ich ein anderer Mensch geworden“, sagt er, „aber mit Sicherheit kein besserer.“
Hintergrund: Mindestens zwölf Millionen
Während und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden mindestens zwölf Millionen Deutsche in den Ostgebieten des Deutschen Reiches und deutschsprachige Bewohner aus Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa vertrieben – als Folge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
- Vertreibungsgebiete waren unter anderem Ostpreußen, Pommern, Schlesien, das Memelland, das Sudetengebiet, Böhmen, Mähren, Prag, Brünn, Olmütz und deutsche Sprachinseln wie der Schönhengstgau sowie Regionen in Südosteuropa, vor allem in Ungarn, Slowenien, Kroatien und Serbien. Die Vertriebenen kamen nach Westdeutschland, in die Sowjetische Besatzungszone und nach Österreich.
- In den Westzonen und ab 1949 in der Bundesrepublik organisierten sie sich in Landsmannschaften, die sich 1957/58 im Bund der Vertriebenen zusammenschlossen.
- 1946 entstand die Ackermann-Gemeinde, ein Zusammenschluss von Mitgliedern der ehemaligen katholischen Bünde und Gemeinschaften vertriebener Deutscher aus der Tschechoslowakei. Der Verband will Böhmen, Mähren, Schlesien und die Slowakei ins Bewusstsein der Deutschen bringen und baut Partnerschaften auf. Er organisiert Begegnungen zwischen Deutschen und Tschechen und leistet finanzielle Hilfe beim Aufbau zerstörter Kirchen, Friedhöfe und Denkmäler.
- Sein Jugendverband, die Junge Aktion (gegründet 1950), ist im Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) vertreten. Sie verbindet Jugendliche im Alter zwischen 16 und 26 Jahren, die an politischen, religiösen und kulturellen Themen interessiert sind. Die Junge Aktion steht für Völkerverständigung durch Begegnung, für Europa, den Einsatz für Menschenrechte und christliches Leben. (kai)
Informationen: www.junge-aktion.de