Jahresserie 2018 "Heimat – Wie im Himmel, so auf Erden"

In der ganzen Welt zuhause sein

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Heimat – „wie im Himmel, so auf Erden“: In der letzten Folge der Jahresserie geht es um Heimat weltweit. Wie kann es gelingen, sich fern der Heimat zuhause zu fühlen? Welche Rolle spielt der Glaube dabei, gibt er Heimat? Und was vermissen Menschen an Zuhause? Drei Weitgereiste erzählen von ihrem Heimatgefühl. Von Julia Hoffmann.

Annika Troitzsch spielt in Brasilien mit den Kindern eine selbstgebastelte Version "Schneckenrennen". Foto: privat
Annika Troitzsch spielt in Brasilien mit den Kindern eine selbstgebastelte
Version "Schneckenrennen". Foto: privat

Annika Troitzsch hat als 19-Jährige ein Jahr in Brasilien verbracht, Marcel Bub ist nach dem Abitur neun Monate lang durch die Welt gereist und Thomas Jung lebte 27 Jahre in Kolumbien. So unterschiedlich die Auslandserfahrungen der drei Menschen sind, es gibt auch viele Gemeinsamkeiten. Besonders, wenn es um essentielle Dinge wie Heimat und Zuhause geht. Für alle drei spielt die Begegnung mit anderen Menschen eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, sich Zuhause zu fühlen.

Annika Troitzsch war über den „sozialen Dienst für Frieden und Versöhnung“ für ein Jahr in der Peripherie von Rio de Janeiro, in Miguel Couto. Der Dienst unter der Trägerschaft des Bistums Mainz hat sie sowohl mit der einheimischen Bevölkerung, als auch mit anderen Freiwilligen in Kontakt gebracht. Mit Letzteren lebte sie zusammen in einer Wohngemeinschaft. „Dort habe ich mich schnell Zuhause gefühlt. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht und es ist Vertrauen entstanden“, erzählt die heute 23-Jährige. In der WG waren andere Freiwillige aus Deutschland, Italien, Österreich und anderen Ländern zu Gast. Die gemeinsame Erfahrung, einen Freiwilligendienst fernab der Heimat zu leisten, hat sie miteinander verbunden. Nach einiger Zeit knüpfte sie Kontakte zu den Kinderhäusern des Projektes, in denen Pflegeeltern mit eigenen Kindern und Pflegekindern leben. „Die Eltern haben mich wie ihre Tochter behandelt“, sagt sie.

Ein ähnliches Gefühl der Verbundenheit beschreibt Marcel Bub, der nach dem Abitur neun Monate um die Welt gereist ist. Er war unter anderem in Indien, Australien, China und Russland. „Mich hat es selbst immer wieder erstaunt, wie schnell ich zu anderen Vertrauen gefasst habe“, sagt er. Seine Mitreisenden waren meistens „Backpacker“ wie er, also Reisende mit Rucksack, die er in den typischen Unterkünften (Hostels) kennenlernte. Sie bilden so etwas wie eine eigene Subkultur und sind inzwischen überall auf der Welt zu finden. „Ich habe mich mit vielen Menschen, die ich erst wenige Stunden kannte, auch über sehr persönliche Themen unterhalten. Hier in Deutschland braucht man viel länger, bis man eine so tiefe Gesprächsebene erreicht“, sagt er. Das liege an der intensiven Zeit, die man gemeinsam erlebt. Denn wenn man sich unterhält, während man zum Beispiel mit dem Zug quer durch die Mongolei reist, oder einen Vulkan in Japan besteigt, sei man körperlich und geistig sehr stark gefordert und erlebe zudem diese intensive Situation gemeinsam. Deshalb kommen Gespräche dann auch mal schneller zum Punkt, meint Bub. Zu einigen dieser Freunde hält er heute noch Kontakt.

Gefühl von Zuhause beim Essen

Für Thomas Jung stellten sich Heimatgefühle in der Fremde ein, wenn er mit den Einheimischen im Urwald abends am Herdfeuer saß und gemeinsam aß. Er lebte insgesamt 27 Jahre in Kolumbien. In den ersten Jahren wohnte er immer wochenweise beim indigenen Volk der „Awá“, was übersetzt „Menschen aus dem Wald“ heißt. Es gab einfaches Essen wie Kochbananen oder Maniokwurzeln, die sie miteinander teilten. „Sie erzählten mir die alten Geschichten und Legenden ihrer Ahnen und ihres Stammes. Das ich davon Teil sein durfte, macht sehr viel davon aus, was ich unter Heimat verstehe, auch wenn ich Zehntausend Kilometer von Zuhause entfernt war“, sagt er.

Marcel Bub auf der chinesischen Mauer Foto: privat
Marcel Bub auf der chinesischen Mauer. Foto: privat

Heimatgefühle in der Ferne wachsen im Lauf der Zeit. „Das Engagement für ihre Anliegen wurde immer mehr zu einem Teil von mir selbst“, sagt Thomas Jung, der sich ausgehend von den Interessen der indigenen Bevölkerung für deren Recht auf Selbstbestimmung einsetzte. Dieses Zugehörigkeitsgefühl ließ ihn seinen Aufenthalt in Kolumbien immer wieder verlängern. „Mir war nach den ersten drei Jahren klar: Ich kann jetzt nicht einfach gehen. Ich fange jetzt erst an, richtig zu verstehen“, sagt Jung. Er blieb schließlich fast sein halbes Leben lang in Kolumbien und arbeitete in verschiedenen Projekten. Der Theologe heiratete dort und gründete eine Familie. Während in den ersten Jahren vor allem die Arbeit mit den indigenen Völkern im Vordergrund stand, zog er später in eine Stadt und arbeitete „mit der Bibel in der Hand“. Gemeinsam mit einem Team versuchte er, „den Leuten die Angst vor der Bibel zu nehmen und ihnen die befreienden Elemente zu zeigen, die darin verborgen sind“, sagt er. Der Glaube verband und verbindet ihn mit den Leuten vor Ort. Er erlebte dort einen starken christlichen Glauben, der sich in einer ausgeprägten Volksfrömmigkeit ausdrückte. „Obwohl ich selbst mit dieser Art der Frömmigkeit nicht immer viel anfangen konnte, habe ich die Menschen dafür bewundert, wie stark sie dieser Glaube trägt“, resümiert Jung.

Dass gemeinsamer Glaube und das „Drumherum“ Gemeinschaft stiften kann, hat auch Annika Troitzsch in Brasilien erlebt. Jeden Morgen besuchte sie eine Andacht, zu der auch die anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Projekts kamen. Sie wurde herzlich begrüßt und willkommen geheißen, im Gottesdienst wurde getanzt und gesungen, es herrschte eine herzliche Atmosphäre. Auch danach blieben die Menschen noch zusammen, unterhielten sich und machten Späße. „Ich habe daran viele schöne Erinnerungen. Da bin ich gerne hingegangen und war gerne Teil davon“, sagt sie.

Wie Glaube Gemeinschaft stiftet Dass der Glaube und die damit verbundene Gemeinschaft dazu beitragen kann, sich Zuhause zu fühlen, hat auch Marcel Bub erlebt. Er war an Ostern in Japan unterwegs und besuchte dort eine deutschsprachige Gemeinde in Tokio, in der er auch den Gottesdienst mitfeierte. Eine deutsche Familie, die in Japan lebt, lud ihn spontan ein, mit zu ihnen nach Hause zu kommen. „Darüber habe ich mich sehr gefreut und das hätte ich auch nicht erwartet“, erinnert er sich.

Ebenfalls in Asien erlebte Marcel Bub das Gefühl, völlig fremd zu sein. Als großer blonder Europäer fiel er vor allem dort schon optisch sehr auf. Wenn ihn zum Beispiel in Indien zu viele Menschen umringten, wie er es manchmal an Bahnhöfen erlebt hat, empfand er das als sehrunangenehm.

Vor seiner Reise verband Marcel Bub mit dem Begriff Heimat vor allem den Ort, an dem er lebte, Fulda-Edelzell, und die Leute dort. „Zuhause ist da, wo ich aufgewachsen bin. Das habe ich gedacht“, sagt er. Was er aber hin und wieder vermisste, war nicht in erster Linie der Ort an sich, sondern bestimmte Situationen. Sich samstags mit Freunden zum Frühstück zu treffen, eine Fahrradtour zu machen oder sich auf ein Glas Wein zu treffen. Das hat ihm eher gefehlt als der Ort.

Wenn Annika Troitzsch ihr Zuhause vermisste, was nur selten vorkam, kochte sie mit anderen Freiwilligen Gerichte, die sie von Zuhause kannte. Sie haben oft Brot gemeinsam gebacken, oder einen Apfelkuchen „mal ohne so viel Zuckerguss darauf“, lacht sie.

Für alle drei spielte das Thema Heimweh aber insgesamt keine überragende Rolle. Sie alle hatten Fotos ihrer Familien bei sich, erlebten es aber manchmal auch als gut, nicht ständig Kontakt mit Zuhause zu haben. Marcel Bub hielt per Handy und über Skype Kontakt zu seiner Familie und seinen Freunden. „Das war ja alles halb so wild“, sagt er. Durch die technischen Möglichkeiten hatte er seine Familie „immer dabei“. „Manchmal habe ich aber auch gemerkt, dass es nicht schlecht ist, sich nicht ständig zu melden“, räumt er ein.

„Mir war es wichtig zu wissen, dass es meiner Familie gut geht. Aber dann habe ich mich auch auf meinen Einsatz konzentriert“, sagt Thomas Jung. In der Anfangsphase telefonierte er nur alle paar Monate mal mit den Daheimgebliebenen. Wichtig für das „Loslassen können“ war vor allem das Gefühl, am richtigen Ort zu sein und eine sinnvolle Aufgabe zu haben. Außerdem, sagt Jung, habe er sich nie ganz alleine gefühlt. Manchmal marschierte er tagelang durch den Urwald. „Obwohl ich alleine unterwegs war, hatte ich nie das Gefühl, ganz alleine zu sein. Ich habe immer gespürt, dass da etwas Mächtiges, Großes neben mir ist, das mich begleitet. Ich fühlte mich begleitet durch Jesus, eine tiefe Glaubenserfahrung“, sagt er.

Bei Annika Troitzsch überwog von Anfang an die Vorfreude. Nach dem Abitur gingen viele ihrer Freunde weg von Zuhause zum Studium oder auf Reisen. Deshalb hat sie es als den richtigen Zeitpunkt erlebt, das auch zu tun.

Wenn aus Heimweh Fernweh wird

Thomas Jung, zu Gast in Pasto, Kolumbien. Foto: Adveniat/Jürgen Escher
Thomas Jung, zu Gast in Pasto, Kolumbien. Foto: Adveniat/Jürgen Escher

Schon schwieriger ist es für manche Weitreisende, wieder in der „alten Heimat“ anzukommen. Besonders wenn man lange fort war, wie Thomas Jung. „Ich sitze immer zwischen zwei Stühlen. Das ist nicht einfach, aber eine Bereicherung.“ Er ist nach Deutschland zurückgekehrt und lebt seit Dezember 2013 in Essen. Im Januar 2014 hat er mit seiner Arbeit bei Adveniat begonnen. „Ich habe immer noch Heimweh“, gesteht er. Aber es sei eine bewusste Entscheidung gewesen, zurückzukehren. Seine Tochter wollte in Deutschland studieren, deshalb zog die ganze Familie nach Deutschland. Für ihn gibt es kein besser oder schlechter. „Da wo mein Herz schlägt, wo meine Familie und meine Freunde sind und wo ich eine Aufgabe habe, da bin ich Zuhause“, betont er. Für ihn kommt es auf den Zusammenhang an. Wenn er an Spaziergänge mit seiner Oma auf dem Blasiusberg in Dorndorf denkt, die 50 Jahre zurückliegen, bekommt er genauso Heimatgefühle, wie wenn er an die Geräusche des nächtlichen Dschungels denkt.

Annika Troitzsch hat nach ihrem Auslandsjahr in Freiburg angefangen Psychologie zu studieren. „Am Anfang war meine Heimat im Kopf noch Brasilien. Dort habe ich mich oft hingewünscht“, sagt sie. Sie vermisste es, einfach rauszugehen auf die Straße und sich mit den Leuten zu unterhalten. „Das geht hier besonders im Winter eher nicht“, sagt sie. Es habe gedauert, sich zu trennen. Inzwischen hat sie sich wieder eingelebt. Jetzt unterstützt sie ihr Projekt in Brasilien von hier aus. Die „Brücke der Freundschaft“ ist eine Partnerschaft zwischen ihrer Heimatgemeinde St. Peter und Paul in Dieburg und dem Projekt „Casa Do Menor“ in Brasilien. Dort engagiert sie sich und bleibt so mit ihrem Einsatzland in Verbindung.

Auch Thomas Jung setzt sich weiterhin für „seine Latinos“ ein. Das gibt seinem Aufenthalt hier in Deutschland mehr Sinn. Ob er später einmal nach Kolumbien zurückkehren wird, steht noch nicht fest. „Das wird in der Familie entschieden“, sagt er. Marcel Bub packt weiterhin leidenschaftlich gern den Rucksack. Selbst wenn er nur von Hamburg, wo er derzeit Politikwissenschaft studiert, nach Hause nach Fulda fährt. Ihn hat die große Reise entspannter gemacht, sagt er. In den ersten Wochen fand er es gut, wieder Zuhause zu sein. Doch es dauerte nicht lange, bis er seinen Rucksack wieder aus dem Schrank holte. Dieses Jahr war er in Marokko unterwegs. Und bestimmt wird er seinen Rucksack bald wieder packen und seinem Fernweh nachgeben.

 

Zur Person: Brasilien, Kolumbien und die Welt entdecken

Annika Troitzsch (23) hat von August 2014 bis August 2015 im Projekt „Casa Do Menor“ im Großraum Rio de Janeiro in Brasilien mitgearbeitet. Dort hat sie Kinder und Jugendliche betreut, mit ihnen Hausaufgaben gemacht, gespielt und getanzt. Sie kommt aus Hofheim im Taunus und unterstützt das Patenschaftsprojekt „Brücke der Freundschaft“, über das die Pfarrei St. Peter und Paul in Dieburg mit Miguel Couto in Brasilien verbunden ist. Sie studiert in Freiburg Psychologie und Soziologie.

Thomas Jung (58) kommt ursprünglich aus Limburg. Der Theologe hat 27 Jahre in Kolumbien gelebt. Seit fünf Jahren lebt und arbeitet er wieder in Deutschland. Er ist Referent für Verbände, Organisationen, Freiwilligendienst und Ehrenamt beim Lateinamerika- Hilfswerk Adveniat in Essen. In Kolumbien lebte er zunächst in der subtropischen Region Nariño. Dort setzte er sich für das indigene Volk der „Awá“ ein. Später wohnte er mit seiner Familie in Pasto und übernahm dort in einer diözesanen Aufgabe Bibelarbeit und Sozialpastoral.

Marcel Bub (22) war nach seinem Abitur von September 2016 bis Juli 2017 in verschiedenen Ländern unterwegs, um zu reisen und zu arbeiten. Er bereiste Australien, Neuseeland, Indien, Japan, China, die Mongolei und Russland. Immer dabei: Der alte Rucksack seines Vaters, der selbst schon damit gereist war. Die Flüge hatte er vorher schon gebucht. Was er im jeweiligen Land machte, entschied er erst vor Ort, jedes Mal aufs Neue. Nach seiner Rückkehr zog er nach Hamburg, wo er inzwischen Politikwissenschaft im 3. Semester studiert.