Gespräch mit Michael Grünberg aus der jüdischen Gemeinde in Osnabrück

Die Mehrheit darf nicht schweigen

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Michael Grünberg jüdische Gemeinde Osnabrück
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Foto: Thomas Osterfeld

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Michael Grünberg, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Osnabrück, sorgt sich um die Demokratie in Deutschland.

Mit Sorge beobachtet Michael Grünberg das Erstarken populistischer Parteien und den wachsenden Antisemitismus in Deutschland – auch angesichts seiner eigenen Familiengeschichte. Die demokratischen Kräfte müssten jetzt zusammenstehen, sagt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Osnabrück.

Das Schicksal seiner Vorfahren ist immer gegenwärtig. Michael Grünberg sagt, er brauche keine Gedenktage, um sich daran zu erinnern. Sein Vater, Louis Grünberg, überlebte als Einziger seiner Kernfamilie den Holocaust. Die Ausreisepapiere nach Argentinien lagen 1939 bereit. Weil Eltern und Kinder aber nur zeitversetzt hätten ausreisen dürfen, entschieden sich die Grünbergs, zu bleiben. Sie litten zwar unter Repressalien, hatten aber Unterstützung von ihren Nachbarn und waren deshalb überzeugt: Wenn der Spuk des Nationalsozialismus vorbei ist, geht das Leben normal weiter. Ein nachvollziehbarer Gedanke, mit fatalen Folgen. „Auch das ist in meinem Kopf drin“, sagt Grünberg. Heißt: Er hat aus seiner Familiengeschichte gelernt und beobachtet das politische Geschehen, das Erstarken der Rechtsextremen in Deutschland, sehr genau.

Michael Grünberg, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Osnabrück, sitzt mit ernster Miene am Schreibtisch in seinem Büro. Seine Sätze wiegen schwer. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel, seit dem Massaker an Zivilisten, ist ein Jahr vergangen. Und noch immer befinden sich Geiseln in den Händen der Terroristen. Die Fotos der Entführten sind auch in der Osnabrücker Synagoge aufgestellt. „Wir haben sie jeden Tag vor Augen.“ Für die Juden in Israel, betont Grünberg, sei ein Trauma aufgebrochen. Holocaust-Überlebende zum Beispiel hätten darauf vertraut, wegen ihrer Religionszugehörigkeit nie wieder verfolgt zu werden. „Auf einmal wurden Juden im eigenen Land ermordet, und der Staat war nicht in der Lage, sie zu schützen.“ Kurze Pause. „Versuchen Sie zu verstehen, was das bei den Menschen auslöst.“

Auch für Juden in Deutschland ist das Klima rau geworden. Unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023, sagt Grünberg, habe es große Solidaritätsbekundungen gegeben, doch mit der Empathie sei es schnell vorbei gewesen. „Es kam zu einer typischen Täter-Opfer-Umkehr, und Israel wurde angeprangert, einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung in Gaza zu führen. Fakt ist aber, dass Israel von Terroristen bedroht wird; die Existenz des Landes steht auf dem Spiel. Es läuft noch immer der Akt der Verteidigung.“ In Grünberg brodelt es, als er berichtet, wie der neue Hamas-Führer im arabischen Nachrichtensender Al Jazeera kürzlich frohlockte, dass das Kalkül der Terrorgruppe aufgehe: Je mehr Zivilisten in Gaza getötet würden, desto mehr sei Israel in der Welt isoliert.

Im Alltag schockiert Michael Grünberg vor allem der offene Antisemitismus. Das habe sich im Vergleich zu früher verändert, sagt er. Schmähbriefe beispielsweise, adressiert an die jüdische Gemeinde, sind längst nicht mehr anonym. An Universitäten werden jüdische Studierende angegriffen und vom Campus gejagt. „Da werden Menschen ausgeschlossen, das Grundgesetz wird missachtet – das hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun“, kritisiert Grünberg. Besorgniserregend findet er, dass die Mehrheitsgesellschaft stumm bleibt. „Wenn wir nicht aufpassen, werden wir die Demokratie in Deutschland verlieren. Mit Auswirkungen nicht nur für uns Juden, sondern für die ganze Gesellschaft.“ Das Wegducken eines großen Teils der Bevölkerung erinnert Grünberg an dunkle Zeiten. „Wenn ich die NSDAP und die AfD vergleiche, sehe ich Parallelen: einen radikalen Teil und einen gemäßigten Teil. Aber bei der Machtübernahme 1933 nahm der radikale Teil schnell überhand. Das macht mich angesichts meiner eigenen Familiengeschichte schon nachdenklich.“

Michael Grünberg, Jahrgang 1955, wuchs im emsländischen Sögel auf. Vor der Shoah gab es dort eine große jüdische Gemeinde mit etwa 100 Mitgliedern. Die Grünbergs sicherten sich mit einem Viehhandel ihren Lebensunterhalt. Michael Grünbergs Großvater wurde 1921 Schützenkönig. „Wer in Sögel Schützenkönig wurde, musste nicht gut schießen können, er war ein angesehener Bürger.“ Nach den Novemberpogromen 1938 wanderten viele jüdische Familien aus. Als Mitte Dezember 1941 die Deportationen begannen, befanden sich darunter auch Angehörige der Synagogengemeinde Sögel. Sie wurden ins Ghetto Riga verfrachtet. Die meisten kamen ums Leben.

Wenn wir nicht aufpassen, werden wir die Demokratie in Deutschland verlieren.

Michael Grünberg fühlt sich in Osnabrück sicher. „Ich habe keine Angst, Deutschland ist zum Glück ein Rechts- und Sozialstaat. Aber das gilt es zu verteidigen.“ Es gibt zwei Ausreden im Zusammenhang mit Shoah und Antisemitismus: Wir haben ja nichts gewusst. Und: Wir konnten ja nichts tun. Grünberg schüttelt den Kopf. „Das stimmte damals schon nicht – und heute erst recht nicht. Jeder kann hören, was Höcke und seine Gefolgsleute sagen.“

Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde maßt sich nicht an, politische Lösungen parat zu haben. Aber angesichts der Krisen im Land und weltweit fände er es wichtig, dass sich „die demokratischen Kräfte zusammentun“. Es komme darauf an, ein freies Land zu bleiben, die Menschenrechte zu achten, den Zusammenhalt der Gesellschaft wieder herzustellen – und für die Demokratie öfter auf die Straße zu gehen.

Michael Grünberg Hände
Jeder seiner Sätze wiegt schwer: Michael Grünberg Foto: Thomas Osterfeld

Bei den Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern machten vor allem junge Wähler ihr Kreuz bei der als rechtsextrem eingestuften AfD. Hat jahrzehntelange Erinnerungskultur denn gar nichts bewirkt? Doch, sagt Michael Grünberg und appelliert, nicht nachzulassen. In der Friedensstadt Osnabrück gibt es ein neues, interaktives Museum. Das Gebäude, die Villa Schlikker, wurde bis 1945 von der NSDAP als regionale Parteizentrale genutzt. Künftig soll die „Villa_“ ein Lernort sein und Menschen zum Nachdenken anregen. Auch in Bezug auf die Gegenwart. Unter anderem geht es um die Geschichte von Hans Georg Calmeyer. Der Jurist bewahrte einerseits viele Juden vor der Deportation in Konzentrationslager, als leitender Mitarbeiter der deutschen Besatzungsbehörde im niederländischen Den Haag schickte er aber auch viele Menschen in den Tod. Nichts ist einfach nur schwarz oder weiß. Grünberg empfiehlt das Museum allen Osnabrücker Schülerinnen und Schülern.

Die Zahl antisemitischer Straftaten steigt. Jüdisches Leben und jüdische Religionsausübung in Deutschland sind weiterhin gefährdet. Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Osnabrück hat deshalb Solidaritätswachen vor der Synagoge ins Leben gerufen. Einerseits, um Solidarität zu zeigen, andererseits, um darauf hinzuweisen, dass Gesellschaft und Politik sich nicht damit abfinden dürfen, wenn jüdische Einrichtungen von der Polizei geschützt werden müssen und an ihren Feiertagen besonders verletzlich sind. Michael Grünberg freut sich über die Aktion. „Unsere Gemeindemitglieder fühlen sich dadurch akzeptiert, beschützt und dazugehörig.“ Er bewundert auch, wie viele Menschen sich daran beteiligen. Und ihm ist aufgefallen, dass manchmal auch Passanten stehenbleiben und sich informieren. „Viele wissen gar nicht, dass sich mitten in ihrem Wohngebiet eine Synagoge befindet.“

2025 plant die Osnabrücker Gemeinde erstmals jüdische Kulturtage in der Stadt. Ein Thema abseits von Shoah und Nahostkonflikt. „Wir wollen auch mal eine andere Seite jüdischen Lebens zeigen“, erklärt Grünberg. „Ich hoffe, dass uns das gelingt.“

Anja Sabel

Hier finden Sie in Kürze die Termine im Bistum Osnabrück und im Erzbistum Hamburg rund um den Gedenktag 9. November.