Klösterreise – Von den Orden lernen
Die zweifache Armut
Foto: Cathia Hecker
Der Mann war mal Computerspezialist. Er redet wie ein Buch. Nur Sozialberatung braucht er, sonst gar nichts! Maria Goetzens fragt um Erlaubnis: Ob sie sich seine Beine einmal anschauen dürfe? Er sagt, Schmerzen könne man ja nicht sehen, was sie sich denn da anschauen wolle. Es ist ein Ringen, das die Ärztin und Ordensfrau gewinnt. Mit Hilfe von Pfleger Mihaly Ötvös bringt sie handtellergroße Wunden zum Vorschein, reinigt und versorgt sie. Der Patient spricht unterdessen davon, wie schrecklich er oft behandelt wurde: Da muss er sich doch wehren! Seit einigen Wochen sitzt er im Rollstuhl, auf der Straße lebt er schon länger. Ob es denn Verwandte gibt, will Goetzens wissen. Niemand ist da. Er ist ganz allein. Auf einmal sagt er: „Ich kann nicht mehr.“ Im nächsten Moment verteidigt er seine Zehennägel, die Goetzens ihm schneiden will. Sein starker Wille und seine Worte sind das, was ihm geblieben sind: „Ich habe ihr so viel zu sagen, der Frau Doktor!“
Seit 9 Uhr behandelt die 64-Jährige einen Patienten nach dem anderen.
27 Menschen sind gekommen. „Ein toller Tag!“ findet Maria Goetzens. Sie freut sich, dass viele den Schritt gemacht und Hilfe gesucht haben. Alle, die kommen, werden freundlich, manchmal bestimmt, immer respektvoll behandelt: die Frau, deren Arme blau geschlagen wurden, der Mann, dessen Kopfwunde mit sieben Stichen genäht wurde, der junge Mann mit Diabetes und Schulden, der jeden Moment aus seiner Wohnung fliegen kann.
Maria Goetzens bewundert den Überlebenswillen ihrer Patienten. Ihre Armut sieht sie genau: Was sie besitzen, passt in eine Leinentasche. Sie haben nichts Vernünftiges zu essen, kein Dach über dem Kopf und oft auch keine Gefährten. Menschen um sie herum gehen ihnen aus dem Weg, wollen sie nicht haben. Manche wurden schon als Kinder schlimm behandelt, haben keine Schule besucht, haben Traumatisches erlebt, sind aus der medizinischen Versorgung herausgefallen.
Sie sind ganz arm, und „das sieht weder Gott noch Jesus als erstrebenswert an“, hält die Ordensschwester fest. Jesus habe nie gewollt, dass die Menschen hungern, dürsten oder kein Dach über dem Kopf haben. Im Gegenteil, solche Zustände riefen nach den Werken der Barmherzigkeit: den Hungrigen zu essen geben, die Nackten bekleiden, die Kranken versorgen.
Die Ordensschwester wird nicht müde, es immer wieder zu erklären: Armut macht krank, Krankheit macht arm! In ihrer Stadt Frankfurt findet sie den Gegensatz zwischen Arm und Reich fast unerträglich. 20 Tote werden in diesem Jahr schon in der Elisabeth-Straßenambulanz beklagt, „und draußen fahren sie herum mit ihren SUVs!“
Wie reich, wie arm ist sie selbst, wie lebt ihre Gemeinschaft? Alle Missionsärztlichen Schwestern geloben ja Armut – ist die etwa doch erstrebenswert? Thema bei einem Abendessen, zu dem die Gemeinschaft einlädt.
Das Freiwerden von etwas für etwas
Es gibt Ofenkartoffeln, Gemüse und Kräuterquark. Die Ordensschwestern, die in verschiedenen Berufen arbeiten (siehe unten „Zur Sache“) haben eine Haushaltsangestellte. Die Frauen sind sich einig: Arm sind sie nicht, sie haben alles, was sie brauchen. Zum Beispiel gute Handys, leckeres Essen, Kleidung nach ihrem Geschmack, auch wenn sie versuchen, nicht zu viel zu kaufen.
Armut, wie Jesus sie predigte, sei nicht Mangel, sondern das „Freiwerden von etwas für etwas“, sagen die Ordensschwestern. Reich seien sie, weil ihr Leben Sinn hat, sie in Gemeinschaft leben, einander helfen. Und weil sie Ruhe und Frieden erfahren in ihrer Beziehung zu Gott. Schwester Kristina Wolf „tut etwas dazu“ – so nennen es die Schwestern, wenn sie sich an der Diskussion beteiligen. In ihrem Elternhaus wurde stets gespart. Sie habe deshalb erst lernen müssen, sich das zu gönnen, was sie wirklich braucht. Vor ihrer Profess – dem Versprechen, sich an den Orden zu binden – hat sie „Armut“ für sich so definiert: „Nehmen, was da ist, und bereit sein, es zu teilen.“
Die Schweizerin Carmen Speck ist Physiotherapeutin und hat in ihrer Heimat viel mehr verdient als in Deutschland. Sie berichtet, wie schwer es ihr fiel, sich daran zu gewöhnen. Wenn die Frauen das Verdiente auch in einen Topf werfen, so sind sie doch Teil einer Gesellschaft, in der Geld Maßstab zur Bewertung von Leistung ist und damit auch von Leuten. Sich davon freizumachen, sei ein Prozess, sagen die Frauen. Schwester Theresia Förster, die schon in Rente ist, wirft ein, auch Älterwerden sei eine Erfahrung von Armut.
Sich absetzen von einer Welt, in der Geld alles ist
Diese Armut wollen die Frauen annehmen, sich absetzen von einer Welt, in der Geld viel, wenn nicht alles ist. „Wir sind strange (ein bisschen seltsam), aber aktuell“, sagt Schwester Laura Knäbel. Alle lachen. Carmen Speck weist darauf hin, dass diese Form des Lebens Berufung braucht. Ohne Gott funktioniert das alles nicht. Auch nicht Maria Goetzens stressiges Leben. Wäre sie nicht Ordensschwester, wäre sie wahrscheinlich eine Oberärztin, die sich totrackert, sagt Goetzens. So aber findet sie jeden Tag das Leben. Sie folgt ihrem Bild von Jesus: Es ist das vom verwundeten Heiler. Der geht in alle Situationen, hat keine Angst vor Schmutz, Elend, Krankheit oder Unglück. Sie versucht, da mitzugehen. Die Ordensschwestern haben ein Wort dafür: Sie nennen es heilende Präsenz.
https://missionsaerztliche-schwestern.org
In Frankfurt leben die Missionsärztlichen Schwestern in zwei Kommunitäten. Sie sind unter anderem in der Elisabeth-Straßenambulanz und im Meditationszentrum Heilig Kreuz tätig.
ZUR SACHE
Missionsärztliche Schwestern
Die Missionsärztlichen Schwestern sind eine junge Ordensgemeinschaft. Erst 1941 legten die Gründerin, die aus Tirol stammende Ärztin Anna Dengel, und ihre Gefährtinnen die Ordensgelübde ab. Der Orden bekam den Namen „Medical Mission Sisters“ (MMS).
Wichtig war das Jahr 1967 für die Gemeinschaft. Damals wandelte sich das Selbstverständnis der Ordensfrauen weg von einem westlich orientierten Verständnis von Heilung durch ärztliches Tun hin zu einem ganzheitlichen Verständnis, das auch psychische, kulturelle, sozial-strukturelle, spirituelle und ökologische Aspekte berücksichtigen soll („heilende Präsenz“). Heute sind mehr als 500 Missionsärztliche Schwestern und rund 100 assoziierte Mitglieder tätig in Indien, Pakistan, Indonesien, Philippinen, Äthiopien, Ghana, Kenia, Malawi, Uganda, Peru, Venezuela, USA, England, den Niederlanden und Deutschland. In Deutschland gibt es Kommunitäten in Berlin, Bottrop, Essen, Duisburg und Frankfurt. Hier leben und arbeiten zum Beispiel Krankenschwestern, Physiotherapeutinnen, Psychologinnen, Theologinnen und Ärztinnen.
Die Kontemplation (das schweigende Gebet) beschreibt die Gemeinschaft als „Herz unseres Lebens“. Sie soll die Frauen dazu führen, Realitäten des Lebens zu sehen und zu verstehen, und ihnen ermöglichen, auf diese Realitäten zu antworten: „Das kontemplative Leben lehrt uns, die Welt mit den Augen Gottes zu sehen und inspiriert uns, Gott in den Menschen um uns herum zu suchen, zu erkennen, zu lieben und zu dienen. Es ist Gott, der uns auf eine innere Reise zieht, die uns zum inneren Kern unseres Daseins führt.“ Meditation, Gebet, Liturgie und gemeinsame Feste nennen sie als Kraftquellen. (nen)