Defizite in der christlichen Gebets- und Gottesdienstpraxis

Es geht an die Substanz

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Die Pandemie-Situation macht Defizite in der christlichen Gebets- und Gottesdienstpraxis deutlich. Das erschwert die geistliche Bewältigung der Krise. Zugleich beschleunigt sich die Entkirchlichung des Christentums.

Während des Magdeburger Neujahrsgesprächs im Spiegelsaal der evangelischen Bischofskanzlei. Das Forum war aufgrund der Pandemie-Situation nur im Online-Format zu verfolgen.    Foto: Susanne Soerling

 

Die Theologin Julia Knop sieht Gesellschaft und Kirche angesichts von Corona in einer Zeitenwende, aber einer, „die noch nicht vollzogen ist“. „Wir sind gerade auf dem Wendepunkt, besser gesagt: dem Wendeplateau, ohne absehen zu können, wo-
hin es genau geht und wer wir sein werden“, stellte die Professorin für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät Erfurt beim Magdeburger Ökumenischen Neujahrsgespräch Mitte Dezember fest.
Im kirchlichen Kontext jedenfalls wirke Corona wie ein Brennglas, betonte Knop in ihrem Impulsvortrag. „Die Pandemie legt frei, welche Ressourcen da sind und welche nötig wären. Sie legt offen, was aus Gewohnheit lief, aber kaum mehr Bedürfnis war. Und sie zeigt, was auch im rituellen Notprogramm nicht fehlen darf, nämlich die innere und äußere Beteiligung derer, um deren Leben und Glauben es geht.“
So passe das übliche rituelle Standardprogramm nicht so recht zur derzeitigen Ausnahmesituation. Manch gutwillige, liturgieaffine Katholiken hätten angesichts der Pandemie in ihrer Kirche „keine geistliche Antwort, kein passendes liturgisches Format“, keine angemessenen Gottesdienstformen gefunden:  Gottesdienste, in denen „das menschliche Leben, ob Liebe oder Leid, Freude oder Angst, eine gemeinsame Sprache findet und vor Gott gebracht wird, wenigstens als Frage, als Bitte, durchaus auch als Klage.“ Sie hätten Gottesdienste in Formen vermisst, „die heute verständlich sind und heutigen Erfahrungen Ausdruck geben können“.
Gute Sonntagschristen, die zu Ostern 2020 wegen der Pandemie auf den Gottesdienst verzichten mussten, würden ihn inzwischen auch sonst für verzichtbar halten. Manchem sei auch das Beten vergangen, obwohl es so wichtig wäre und eine Weise, „um mit einer aus den Fugen geratenen Welt umzugehen“. Knop: Das „spirituelle Repertoire greift zu kurz für ein gelungenes geistliches Coping (Bewältigung) der Pandemie“.
So habe Corona Entwicklungen beschleunigt, die nicht neu seien, aber deren Konsequenzen man nicht ganz so schnell erwartet habe. „Insbesondere die Entkirchlichung des Christentums – soziologisch ausgedrückt, die Ent-Institutionalisierung des Religiösen – dürfte massiv beschleunigt worden sein.“

„Gott glauben ... ohne religiösen Zauber“
Die Schwierigkeit, die Pandemie spirituell zu deuten und religiös mit ihr umzugehen, verweist nach Meinung der Theologin vielleicht noch auf viel weiter Gehendes: „Nicht nur auf kirchliche Formate und Haltungen, denen möglicherweise ein Update gut täte, sondern auf einen Gott, der sich entzieht. Der auch durch Formen, die unserem heutigen Empfinden besser entsprechen, nicht zu packen ist. Der sich auch von denen nicht leicht finden lässt, die ihn aufrichtig suchen.“ Eine riesige spirituelle Herausforderung der vergangenen Monate, so die Theologin, liege darin, „Gott in seiner Entzogenheit zu glauben. Ohne religiösen Zauber. Jenseits eingeübter Rede.“ Es sei eben nicht nur theoretisch richtig, „dass Gott anders ist als alles andere, ja dass er anders anders ist ...“. Vielmehr sei es eine „Herausforderung ersten Ranges: Dass er Gott ist und nicht Welt und dass wir, mit Dietrich Bonhoeffer gesagt, lernen müssen, vor ihm ohne ihn zu leben: angesichts Gottes, aber ohne ihn zu brauchen, ohne ihn zu benutzen, und sei es dafür, in all diesem Unsinn einen tieferen Sinn zu postulieren.“ Eine „ent-zauberte Welt“ könne man nicht wieder verzaubern. „Ein ent-zaubertes Gottesbild auch nicht“, so die Theologin: „Die Pandemie geht auch religiös an die Substanz.“
„Zeitenwende Corona-Krise. Gott und die Welt mit und nach der Pandemie“ hatten die Veranstalter das Magdeburger Ökumenische Neujahrsgespräch zu Beginn des Kirchenjahres überschrieben. Zu dem Forum mit dem Magdeburger Bischof Gerhard Feige und dem Landesbischof der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands, Friedrich Kramer, laden die Katholische und die Evangelische Akademie ein. Neben den Bischöfen und Professorin Knop nahmen an dem Podium, das per Stream verfolgt werden konnte, auch der Landtagsabgeordnete Tobias Krull (CDU) und der freie Journalist Philipp Greifenstein (Die Eule) teil.
Aufgabe der Christen müsse es sein, die Achtung der Würde gerade auch des leidenden Menschen einzufordern, zumal die moderne Gesellschaft dem Leiden möglichst aus dem Weg gehe, sagte Landesbischof Friedrich Kramer. Für Bischof Gerhard Feige dürfen die Kirchen auch in Debatten wie über die nötige Solidarität in der Gesellschaft oder die Einschränkung von individuellen Freiheitsrechten zugunsten des Gemeinwohls nicht schweigen. Landtagsmitglied Krull hält es für geboten, das konkrete politische Handeln in der Krise stets umfassend und nachvollziehbar zu erklären. Aus Sicht des Journalisten Greifenstein wird medial zu wenig über das karitative und sozial-diakonische Engagement der Kirchen in der Krise berichtet.

Die fromme Mutmaßung wäre zynisch
Dogmatikerin Knop betonte, Theologen sollten sich „um Gottes und der Menschen willen“ vor schnellen Deutungen der Pandemie hüten. „Auf die Frage, wozu das alles gut sein soll, sollten sie zuerst antworten: Ich weiß es nicht – und sollte es auch nicht besser wissen wollen als andere. Die fromme Mutmaßung, es gebe gewiss einen Sinn, etwas Gutes, einen verborgenen Plan dahinter, den Gott allein kenne, wäre zynisch.“ Eine weltweite Seuche mit derart gravierenden Verlusten und Verlusterfahrungen „ist zu nichts gut, selbst wenn sie das eine oder andere Gute hervorlockt und sichtbar gemacht haben“ sollte.
„Mit Gott“, so die Theologin, „denkt es sich nicht nur nicht einfacher als ohne, mit ihm lebt es sich auch nicht unbedingt leichter.“ Um so mehr gehöre das Gespräch mit ihm, das Gebet als eine Weise der Bewältigung der Krise‚ auf das Plateau der gegenwärtigen Zeitenwende.

Neujahrsgespräch unter www.ev-akademie-wittenberg.de

Von Eckhard Pohl