Interview mit Pfarrer Kossen über Arbeitsmigranten vor seinem Radiogottesdienst
Irgendwann ist auch der Stärkste am Ende
Michael Bönte/Bistumszeitung Kirche+Leben
Das Thema Ihrer Predigt heißt „Gerechtigkeit macht uns stark – gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Warum ist das in Deutschland so schwer umzusetzen?
Preisdruck und Konkurrenzkampf sind manchmal so groß, dass es für Arbeitgeber verlockend ist, Lücken in der Gesetzgebung zu unterlaufen und fehlende Kontrollen auszunutzen. Sie sparen bei den Personalkosten, unterbieten Sozialstandards und verschaffen sich somit Vorteile am Markt. Das betrifft vor allem Arbeitsmigranten, die überall in Deutschland ausgebeutet werden. Die, die damit Geld verdienen, nutzen die Notlage dieser Menschen aus.
Beunruhigend!
Ja, in Deutschland ist Arbeitskraft ein knappes Gut. Gleichzeitig soll sie aber billig sein – damit die Gewinne stimmen. Deshalb werden Menschen aus immer ärmeren Regionen Ost- und Südosteuropas rekrutiert. Erst waren es Menschen aus Polen, später aus Rumänien, Ungarn und Bulgarien. Jetzt kommen sie auch aus Nicht-EU-Staaten wie Moldawien oder Mazedonien, dann ist ihr Einsatz nicht selten illegal. Geflohene Menschen anzuwerben und auszubeuten, ist ebenso gängige Praxis.
Sie sprechen auch von „Wegwerfmenschen“. Warum dieses harte Wort?
Als Priester begegne ich immer wieder Menschen, auf die das harte Wort zutrifft. Leider. Und es empört mich. Mein jüngerer Bruder Florian ist Arzt. Er sieht jeden Tag, welche chronischen Leiden diejenigen davontragen, die es trotz der Menschenschinderei schaffen, über mehrere Jahre durchzuhalten. Zum Beispiel in den Schlachthöfen. Das ist harte körperliche Arbeit in feuchten und sehr kalten Räumen. Dann der ständige Druck, noch schneller zu arbeiten. Irgendwann ist auch der Stärkste physisch und psychisch am Ende. Menschen werden benutzt, verschlissen und dann entsorgt. Wie Maschinenschrott.
Können Sie ein Beispiel nennen, unter welchen Bedingungen die sogenannten „Wegwerfmenschen“ arbeiten?
An Weihnachten erzählte mir mein Bruder von einem Patienten. Der Mann aus Bulgarien arbeitet in einem großen Putenschlachthof im Oldenburger Land. Zusammen mit zwei Kollegen muss er täglich in einer gut zwölfstündigen Schicht 26.500 geschlachtete Puten aufhängen, das sind ungefähr 9000 Tiere pro Person, mehr als zweihundert Tonnen Fleisch pro Arbeiter in einer Schicht, sechs Tage in der Woche. Er verdient für 280 Arbeitsstunden im Monat 1400 Euro. Das sind genau fünf Euro pro Stunde für diese Schwerstarbeit. Geht rechtlich eigentlich nicht, ist aber so.
In welchen Branchen sind Arbeitsmigranten noch zu finden?
Sie bauen unsere Kreuzfahrtschiffe und teure deutsche Autos, sie schuften in Ausstall-Kolonnen, auf Baustellen, in der Gebäudereinigung, im Glasfaserausbau und als Paketzusteller. Die Leute, die beispielsweise die Pakete an die Haustür bringen, sind nicht bei Hermes, dpd oder Amazon beschäftigt, sondern bei Subunternehmern.
Oft bleiben diese Menschen anonym. Berührt uns deshalb ihr Schicksal so wenig?
Genau, es fällt uns offensichtlich leichter, wenn sie anonym bleiben: ohne Namen, ohne Geschichte, ohne Gesicht. Sie nehmen nicht am gesellschaftlichen Leben teil, es gibt Sprachbarrieren und wenig Kontakte. Zynisch gesagt: Wenn ich Menschen nicht persönlich kenne, tut es auch gar nicht so weh, wenn sie ausgebeutet werden.
Auch die Wohnverhältnisse sind oft prekär …
Wer kein Deutsch spricht, wenig Geld hat und niemanden kennt, hat in der Regel keine Chance, eine Wohnung zu bekommen. Dann bleibt nur das, was der Arbeitgeber anbietet: oft völlig überteuerte, gesundheitsgefährdende Massenunterkünfte – von Intimsphäre keine Spur. Außerdem: Wer elf Stunden täglich arbeitet, hat auch keine Energie mehr, um Deutsch zu lernen oder Freizeitangebote zu nutzen.
Sie haben 2018 den gemeinnützigen Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“ gegründet, mit einer Beratungsstelle in Lengerich. Was erreichen Sie damit?
Unser Verein macht Angebote für Familien und einzelne Personen, die beispielsweise aus Rumänien oder Bulgarien kommen. Wir merken, wie dankbar diese Menschen sind, dass wir ihnen Räume öffnen, denn ihr Leben dreht sich sonst nur um die Arbeit, sechs Tage in der Woche. Wir beraten arbeitsrechtlich, in Integrationsfragen, bieten erste Sprachkurse – ohne Zertifikat – an, helfen bei Behördengängen, klären über Rechte auf. Dank öffentlicher Mittel können wir einen Juristen beschäftigen und haben ein Netzwerk aufgebaut aus muttersprachlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Und es gibt durchaus Erfolgsgeschichten.
Welche zum Beispiel?
Eine Frau aus Rumänien, Mitte 50, die jahrelang unter widrigen Bedingungen in der Fleischindustrie gearbeitet hat, konnten wir jetzt durch die Beratung unseres Vereins und einen Sprachkurs in die Küche einer psychiatrischen Klinik vermitteln. Alle sind glücklich damit.
Warum hat die Kirche die Arbeitsmigranten noch nicht ausreichend auf dem Schirm?
In der Regel sind diese Menschen nicht katholisch, aber das spielt ja im karitativen Handeln keine Rolle. Sie kommen nicht in unsere Gottesdienste oder sind mit der Familie in der Erstkommunionvorbereitung. Man muss um das Vertrauen dieser Menschen werben, sie sind sehr zurückhaltend.
Was können die Gemeinden tun?
Einfach sensibel sein für diese Menschen: Wertschätzung zeigen, Brücken bauen, sich öffnen und vielleicht auch karitative Angebote schaffen. Die Kirchen müssen Widerstand leisten gegen die Ausbeutung. Das bedeutet, denen zu helfen, die unter die Räder geraten sind und, wenn nötig, dem Rad selbst in die Speichen zu fallen. Ungerechtigkeit gegenüber den Schwächsten betrifft ja die gesamte Arbeitswelt und zieht sie nach unten. Ich bin überzeugt: Eine Gesellschaft, die „Wegwerfmenschen“ zulässt, zerstört letztendlich auch sich selbst.
Haben Sie nach den vielen Kämpfen, die Sie selbst schon ausgefochten haben, noch die Hoffnung, dass sich etwas ändert?
Noch habe ich genügend Energie, um Missstände öffentlich anzuprangern und das Gesicht einer Botschaft zu sein. Und ich habe die Hoffnung und auch das Gefühl, dass langsam ein Umdenken einsetzt. Wir sind dringend auf Migration angewiesen: im Dienstleistungssektor, in der Pflege, nicht zuletzt in der Fleischindustrie. Aufgrund der Überalterung braucht Deutschland einen jährlichen Zuzug von mindestens 400.000 Menschen. Unsere Wirtschaft geht sonst in die Knie. Wie töricht ist es also, Arbeitsmigranten auszubeuten, abzuzocken, zu verschleißen und zu demütigen?
Zur Sache
„Gerechtigkeit macht uns stark – gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ lautet das Motto eines Gottesdienstes, den Radio Bremen am Mittwoch, 1. Mai 2024, ab 10 Uhr aus der Bremer Propsteikirche St. Johann im Programm „Bremen Zwei“ überträgt.
Vorbereitet wurde der Gottesdienst von der evangelischen und katholischen Kirche, darunter dem Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) und der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) zusammen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Das ist in dieser Form einmalig in Deutschland.
Die Predigt hält der katholische Sozialpfarrer Peter Kossen. Der Geistliche setzt sich für Leiharbeiter ein und prangert unwürdige Bedingungen in der Arbeitswelt an.
Er ist Vorsitzender des gemeinnützigen Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“, der ost- und südosteuropäischen Arbeitsmigranten kostenlose juristische Beratung und Unterstützung anbietet.
Der Bremer DGB-Vorsitzende Ernesto Harder wird die Beratungsstelle für mobile Beschäftigte und Opfer von Arbeitsausbeutung im Land Bremen (MoBa) vorstellen und Eliza Vladimirova, pädagogische Mitarbeiterin und Beraterin im Projekt MoBa, wird über einen Fall von Arbeitsausbeutung sprechen.
An der musikalischen Gestaltung wirken Regionalkantor Felix Mende, der Kirchenmusiker Johannes Grundhoff und ein vierköpfiges Vokal-Ensemble unter Leitung von Ilka Hoppe mit.
Wenn Sie mehr über Peter Kossen lesen möchten, lesen Sie den Beitrag „Moderne Sklaverei" oder "Kommt, jetzt gehen wir da durch!".