Auswirkungen der Energiekrise

Kirchenmusik trotz(t) Kälte

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Menschen freuen sich nach zwei Jahren Pandemie auf Adventskonzerte, auf schön gestaltete Weihnachtsgottesdienste. Diesmal macht allerdings die Energiekrise den Musizierenden das Leben schwer. Von der Situation im Bistum Mainz berichtet Anja Weiffen.



Trotz erneut widriger Umstände soll in der Weihnachtszeit so viel Musik wie möglich erklingen.


An manchen Tagen hält sich Michael Gilles fünf bis sechs Stunden in einer der Gießener Kirchen auf. Dann gibt der Regionalkantor Orgelunterricht. „Manchmal kommt es vor, dass wir ausschließlich über die Musikstücke sprechen anstatt sie zu spielen, weil die Finger so kalt sind“, schildert er die Situation.
Seitdem per Dienstanweisung des Bistums vorgeschrieben ist, die Heizungen der Kirchen nur auf Frostschutz zu betreiben, müssen sich Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker mit zunehmend kalten Kirchen auseinandersetzen. Bis vor Kurzem profitierten die Musiker noch von den milden Herbsttemperaturen. „Dicke Kirchenmauern führen dazu, dass die Innen- der Außentemperatur circa zwei Wochen hinterherhinkt“, erklärt der Regionalkantor. In St. Bonifatius waren es zuletzt aber nur noch 11,5 Grad Celsius. Gilles: „Sollte die Temperatur unter zehn Grad sinken, ist die Grenze des Tragbaren erreicht. Irgendwann ist es nicht nur eine Frage des Wohlfühlens, sondern auch des Arbeitsschutzes.“

„Wissen, dass es nicht so weitergehen kann“

Auf Alternativen angesprochen, antwortet Michael Gilles: „Organisten können nur in der Kirche üben und unterrichten, weil nur dort die Orgel steht. Das Ausweichen auf ein Klavier in einem beheizten Raum ist möglich, allerdings kann dort kein Pedalspiel trainiert werden. Und Orgelspielen mit Handschuhen ist unmöglich.“ Für seine beiden Orgeln in der Bonifatiuskirche behält er in der jetzigen Situation neben der Temperatur vor allem die Luftfeuchtigkeit im Blick, diese darf nicht dauerhaft über 70 Prozent liegen. Denn würde sich durch unsachgemäßen Umgang mit Temperatur und Feuchtigkeit Schimmel an dem Instrument bilden, würde das Kostensparen bei der Energie zum finanziellen Bumerang. Nichtsdestotrotz ist Gilles schon seit Längerem völlig klar, dass Energiesparen notwendig ist. „Kirchen mit ihren großen Fenstern pusten die Wärme ja nur so hinaus.“ Daher hat er schon vor ein paar Jahren für St. Bonifatius angeregt, dass spezielle, für den Orgelspieltisch taugliche Infrarotstrahler angeschafft werden, so kann das Heizen der gesamten Kirche für den Orgelunterricht oder das Orgelüben vermieden werden. Auch eine Sitzbankheizung hält er für sinnvoll. Beides heizt nur punktuell. Auch seine Kollegen befürworten das Energiesparen, weiß er. „Wir Kirchenmusiker sind verantwortungsbewusst, wir wissen, dass es nicht so weitergehen kann wie zuvor.“ Dennoch hätte sich Michael Gilles differenzierte Lösungen vom Bistum gewünscht. Zum Beispiel, dass eine Kirche pro Pastoralraum geheizt und konzentriert genutzt werden könnte. Er weist auf ein Dokument der AGÄR hin, der Arbeitsgemeinschaft der Ämter und Referate für Kirchenmusik der Diözesen Deutschlands. Darin wird bemängelt, dass die Diözesen mit ihren Energiesparmaßnahmen zwar auf die Auswirkungen auf die Ausstattung der Kirchen achten, „aber kaum auf Menschen und die im Dienst der kirchlichen Verkündigung stehenden Aus-übenden“. Auch heißt es dort: „Wir befürchten insbesondere vor dem Hintergrund, dass die ursächlichen Probleme der Krise nicht nach einem Winterhalbjahr gelöst sein werden, einen nachhaltigen Abbruch der kirchenmusikalischen Kulturarbeit.“ Gerade in Anbetracht der Advents- und Weihnachtszeit als Kernzeit des kirchenmusikalischen Betriebs betont Michael Gilles: „Wir sollen, wollen und müssen pastoral und kulturell tätig bleiben, unsere Gottesdienste und Veranstaltungen werden wir so gut es geht durchführen.“
Auch an den Domen in Mainz und Worms soll das musikalische Programm in den kommenden Wochen weitgehend umgesetzt werden. „Bis Weihnachten wird es gut gehen“, denkt Dan Zerfaß, Domkantor an St. Peter in Worms. Mit der Domgemeinde habe man sich verständigt, die Raumtemperatur im Dom nicht unter zehn Grad Celsius fallen zu lassen schon allein wegen der barocken Innenausstattung. „Durch die moderne Heizungsanlage wird dabei keine Energie verschwendet.“ Zudem böten die Sandsteinmauern ein verlässliches Klima, was die Feuchtigkeit betrifft. Andere Kirchen hätten je nach Baumaterialien und Umfeld jetzt schon 80 Prozent Luftfeuchtigkeit und lägen damit weit über dem Soll, weiß Zerfaß. Auch er findet die pauschale Dienstanweisung des Bistums wenig hilfreich und sieht Reibungsverluste auf Gemeindeebene durch die so entstehenden Herausforderungen. Sorgen macht er sich um die Existenz von freiberuflichen Musikern, wie sie für Konzerte am Dom engagiert werden. „Diese Musiker sind darauf angewiesen, dass Menschen wie ich wegen eines Engagements anrufen“, sagt er und weist darauf hin, dass dieser Arbeitsmarkt bereits durch die Corona-Pandemie merklich geschwächt wurde. „In der Pandemie haben wir einzelnen Musikern durch Auftrittsmöglichkeiten helfen können, aber bei kalten Kirchen ist das nicht möglich. Dieser Arbeitsmarkt wird nicht aufgefangen.“

Bedürfnis nach Gemeinschaft und Musik

Am Mainzer Dom will Domkapellmeister Karsten Storck trotz der widrigen Umstände viel schöne Musik erklingen lassen. „Wir versuchen alles möglich zu machen.“ Dennoch sagt auch er: „Wir fahren auf Sicht.“ Als Verantwortlicher für die Chöre am Mainzer Dom hat er vor allem die Kinder im Blick. „Die Kinder dürfen nicht krank werden, weil sie anderthalb Stunden im kalten Dom stehen.“ Kürzere Musikstücke und weniger Liedstrophen helfen, damit Gottesdienste im zeitlichen Rahmen bleiben.
Wie kalt der Dom zum Adventskonzert am 17. Dezember wird, ist noch unklar. „Ich plane zwei Varianten: mit und ohne Orchester“, erläutert Karsten Storck die Lage. Denn gerade für Holzblasinstrumente sind tiefe Temperaturen nicht geeignet. Erstmals bei diesem Adventskonzert – das bis auf Stehplätze ausverkauft ist, so Storck – ist das Publikum eingeladen, mitzusingen. Der Domkapellmeister ist überzeugt, dass die Menschen nach wie vor in die Kirchen kommen, im Bedürfnis nach Gemeinschaft, Musik, nach verbindlichen Werten. „Kirchenmusik bietet hier eine unglaubliche Chance. Daher kommt es für mich nicht in Frage, ein Konzert ausfallen zu lassen, gerade nicht in der Advents- und Weihnachtszeit. Wir machen so viel Musik, wie es geht.“

Von Anja Weiffen

Nachgefragt – bei Kirchenmusikdirektor Lutz Brenner

Der Mainzer Diözesankirchenmusikdirektor Lutz Brenner weist darauf hin, dass die Frostschutzregelung mit rund fünf Grad Celsius nicht für die Weihnachtstage gilt. In diesem Zeitraum ist ein gemäßigtes Temperieren der Kirchen möglich. Allerdings sollte die Maximaltemperatur zum Schutz der Instrumente und des Inventars nicht mehr als zehn bis zwölf Grad betragen. So ist es auch nachzulesen in den Empfehlungen für die Kirchenmusik zu den Energiesparmaßnahmen im Bistum, die auf der Internetseite des kirchenmusikalischen Instituts veröffentlicht sind. Für die Organistinnen und Organisten wird vorgeschlagen, von Seiten des Anstellungsträgers, sprich der Gemeinden, Wärmeparavents, Wärmegürtel oder Taschenwärmer anzuschaffen.
„Die Situation ist in diesem Winter für Musiker schwierig“, sagt Brenner. „Besonders für Streicher und Bläser, die erst ab einer Temperatur von 10 Grad spielen können“. Es ist sicherlich gut, in diesem Winter ein Zeichen der Solidarität zu setzen, falls die Situation länger andauert, müssen für die kommenden Jahre andere Lösungen gefunden werden“, erläutert der Diözesankirchenmusikdirektor. (wei)