Aufarbeitung sexualisierter Gewalt durch Priester im Erzbistum Berlin

Torgelower wagen erste Schritte

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Täter und Vertuscher zu benennen, ist Teil der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt durch Priester im Erzbistum. Der jüngst veröffentlichte Teil C des Missbrauchs-Gutachtens weist auch auf den wegen Vergewaltigung verurteilten früheren Torgelower Pfarrer Werner Burkhart hin. In Torgelow hat daraufhin die Beschäftigung mit einem dunklen Teil der Gemeinde-Geschichte begonnen.


Jesus wird seiner Kleider beraubt – eine Kreuzwegstation in der Torgelower Herz-Jesu-Kirche.    Foto: Privat

Bis zum 18. Juni, dem Tag, an dem der bis dahin zurückgehaltene Gutachten-Teil C in Berlin mit einigen Schwärzungen der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, sind die Verbrechen des 1987 verstorbenen Pfarrers Werner Burkhart in der Torgelower Herz-Jesu-Gemeinde nie offen  zur Sprache gekommen. Sein Foto hing in ehrendem Gedenken in einer Seelsorger-Galerie im Vorraum der Kirche. Seit Jahrzehnten hielt sich das Gerücht, er sei 1966 wegen seiner unbeugsamen Haltung zum Unrecht des SED-Regimes in Stasi-Haft geraten.
Das Gutachten bringt anderes zutage: Werner Burkhart hat sich bereits an früheren Wirkungsstätten an Kindern vergangen. In Torgelow fielen ihm bei Zeltfreizeiten und in der eigenen Wohnung viele Male Ministranten zum Opfer. 1966 wurde er dafür rechtskräftig zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt, nicht in einem Stasi-Gefängnis, sondern in einer gewöhnlichen DDR-Haft-anstalt. Auch über die Reaktionen der Verantwortlichen im Bistum Berlin gibt das Gutachten der Anwaltskanzlei „Redeker Sellner Dahs“ Aufschluss. So ist zu erfahren, dass dem Bistum bereits 1964 ein schriftliches Geständnis des Täters vorlag, dass der damalige Kardinal Alfred Bengsch sich aber nicht für den Schutz von Kindern und Jugendlichen an Burkharts folgenden Einsatzstellen stark machte.
Unter anderem verpflichtete Bengsch einen Torgelower Betroffenen, der sich an ihn gewandt hatte, zum Stillschweigen über das Erlebte. Ein Strafverfahren leitete er selbst nicht ein, setzte sich während der Haftzeit des Pfarrers dann aber für dessen vorzeitige Entlassung ein. Er brachte ihn in Erfurt als Krankenseelsorger unter, ohne den zuständigen Bischof über den wirklichen Grund zu informieren.
All diesen Tatsachen ins Auge zu sehen, fällt manchen Katholiken in Torgelow schwer – weil all das so lange her ist, weil es das Bild ins Wanken bringt, dass man sich von längst verstorbenen Geistlichen gemacht hatte, weil es unbequeme Fragen nach der eigenen Rolle im damaligen Geschehen aufwirft ...

„Das sind wir den Betroffenen schuldig“
Dass er es dennoch für unerlässlich hält, den Mantel des Schweigens zu lüften, hat der Berliner Erzbischof Heiner Koch in den vergangenen Monaten immer wieder deutlich gemacht.
Vor allem sei man dies den Betroffenen schuldig. Sie seien nicht nur durch die erlittene Gewalt belastet, sondern auch durch die Erfahrung, ausgegrenzt zu werden, kein Gehör und keinen Glauben zu finden. Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, trage darüber hinaus zum Schutz heutiger Kinder bei. „Wir müssen selbst die Thematik auch in unseren Gemeinden und Gemeinschaften im Gespräch halten, um die Kinder und Jugendlichen zu stärken und um Achtsamkeit und Rücksicht wach zu halten“, sagte Koch bei der Vorstellung des Gutachtens.
Er ermutigte den heutigen Torgelower Pfarrer Marek Malesa, die Gemeinde zu informieren und in die Aufarbeitung des Geschehens der 50er und 60er Jahre einzubeziehen. „Es ist wichtig, dass die Gemeinde heute den wahren Grund der damaligen Haft des Pfarrers Werner Burkhart erfährt und Betroffene die Gelegenheit erhalten, über das erlebte Unrecht und Leid zu berichten“, heißt es in einem Brief Malesas, der im Juli nach Gottesdiensten in Torgelow und anderen Gemeinden der Pfarrei Pasewalk verlesen wurde. Auch im Gemeindeschaukasten ist er zu lesen. Darin bittet der Pfarrer Betroffene, die sich bisher nicht gemeldet haben, sich an ihn, die Ansprechpersonen oder die Interventionsbeauftragte des Erzbistums zu wenden.
Auf den lang gehegten Wunsch von Angehörigen noch lebender Betroffener hin wurden inzwischen die Burkhart-Bilder aus dem Kirchen-Vorraum abgehängt, auch an den Pfarrhaus-Wänden gibt es nun keine Fotos mehr, die den ehemaligen Seelsorger zeigen.
Wie kann es nun weitergehen mit der Aufarbeitung der Missbrauchs-Taten von Torgelow?  Die Beratung und Begleitung von Gemeinden, bei denen Fälle sexualisierter Gewalt zutage getreten sind, gehört zu den Aufgaben der Juristin Birte Schneider, seit November 2020 Interventionsbeauftragte des Erzbistums. „Eine fertige Strategie habe ich dafür aber nicht, es gilt, sehr individuell auf die jeweilige Situation zu reagieren“, erläutert die 47-Jährige. Wenn Pfarrer sie einladen, kommt sie beispielsweise auch zu Gemeindeveranstaltungen in die betroffenen Pfarreien. Auch die kirchliche Organisationsberatung des Erzbistums kann sie mit ins Boot holen. Die wird sonst beiMobbing-Fällen in Gemeinden aktiv oder bei Konflikten, die sich aus den Strukturveränderungen ergeben.
 Um die Taten von 59 Beschuldigten im Zeitraum zwischen 1946 bis 2020 geht es in dem durch das Erzbistum beauftragte Gutachten. Manche leben noch, die meisten sind verstorben. Neben Verdachtsfällen, die nicht geklärt wurden, stehen Fälle, in denen Täter ein Geständnis abgelegt haben oder verurteilt wurden. Bei Werner Burkhart gibt es keinerlei Zweifel an seiner Schuld. Das erleichtert die Kommunikation über das Geschehene.
Dass die Seelsorger der Pfarrei es für wichtig halten, dem Thema Raum zu geben, sieht Birte Schneider ebenfalls als gute und keinesfalls selbstverständliche Voraussetzung. Dennoch brauche es auch in Torgelow eine Menge Fingerspitzengefühl.
Im Gutachten finden sich Hinweise auf weitere Betroffene, verbunden mit der Empfehlung, aktiv auf sie zuzugehen. Birte Schneider findet das schwierig, sieht die Gefahr, dass Opfer, die das Thema für sich bereits gut abgeschlossen haben, durch die offensive Kontaktaufnahme erneut traumatisiert werden. Einen allgemein gehaltenen Aufruf, wie er in Pfarrer Malesas Brief enthalten ist, hält sie für den besseren Weg.
Die erste Reaktionen der Gemeinde nach dem Verlesen des Briefs waren unterschiedlich. „Das kann ich gar nicht glauben“, sagte  eine Frau. Einige Gemeindemitglieder äußerten ihr Unverständnis, warum man die Sache nach so langer Zeit nicht einfach weiter ruhen lasse und empfanden das Reden über die Taten als Störung der Totenruhe von Pfarrer Burkhart. Andere waren erleichtert, endlich bestätigt zu bekommen, was sie insgeheim immer vermutet und allenfalls hinter vorgehaltener Hand besprochen hatten. Mitunter kamen auch Schuldgefühle hoch: „Ich habe schon lange etwas gewusst, aber ich habe mich nie getraut, etwas zu sagen“...

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Zum Umgang mit Macht

Wie kann ein verantwortungsvoller Umgang mit Macht in katholischen Einrichtungen, Pfarreien und Verbänden aussehen? Dieser Frage wird sich ein Fachtag für berufliche und ehrenamtliche kirchliche Mitarbeiter und andere Interessierte am 14. September in Berlin widmen. Veranstalter ist das Katholische Netzwerk Kinderschutz. Anmeldungen sind nicht mehr möglich. (tdh)

Missbrauch ist Teil der Stadtgeschichte
„Ich bin froh, dass dieser Teil unserer Geschichte endlich offen auf den Tisch kommt“, findet Margot Lehmann, auch wenn sie  zur Zeit der Taten noch gar nicht in Torgelow gelebt hat. „Die meisten, die nach dem Gottesdienst über den Brief diskutiert haben, finden es vollkommen richtig, damit nicht länger hinter dem Berg zu halten“, schätzt die Seniorin ein. „Wie oft habe ich mich in den letzten Jahren in der Kirche fremdgeschämt“, sagt sie nachdenklich. „Doch auch jetzt möchte ich die Kirche nicht verlassen. Der Glaube ist doch etwas wirklich Gutes. Retten werden wir die Kirche aber nur, wenn wir uns der Vergangenheit stellen.“
Vor einigen Tagen ist auch auch die politische Gemeinde in Torgelow auf die Missbrauchsfälle der katholischen Gemeinde aufmerksam geworden. „Das ist ja damit auch Teil unserer Stadtgeschichte“, sagt Chronist Ulrich Blume. Er möchte den Fall Burkhart mit in die Stadtchronik aufnehmen. Die katholischen Christen können in ihrem Bemühen um Aufarbeitung auf seine Unterstützung zählen. Auch Bürgermeisterin Kerstin Pukallus (parteilos) sei an dem Thema interessiert.
Ein wesentlicher Aspekt der Aufarbeitung ist es, den Umgang der kirchlich Verantwortlichen mit den Verbrechen von Priestern kritisch zu beleuchten. Bei den Vorbereitungen der Erinnerungsveranstaltungen zum 100. Geburtstag von Kardinal Alfred Bengsch war seine Rolle bei den Missbrauchsfällen noch nicht im Bewusstsein. In der Bengsch-Biografie, die der Herder-Verlag zum runden Geburtstag herausgibt, kommt das Thema nur am Rande vor.
„Es bedarf natürlich weiterer Untersuchungen, was die Rolle auch von Kardinal Bengsch im Zusammenhang mit der Vertuschung von Missbrauch betrifft“, sagt Generalvikar Manfred Kollig. Die Gedenk-Veranstaltungen bieten seiner Ansicht nach durchaus „Platz und Rahmen, auch diesen Aspekt seines Lebens mit aufzunehmen und zu beleuchten.“

Von Missbrauch im Erzbistum Betroffene, ihre Angehörigen oder Menschen, die Zeugen von Missbrauch geworden sind, können sich an eine der unabhängigen Ansprechpersonen im Erzbistum wenden und finden dort Gehör: Dina Gehr Martinez 0176/72 48 02 86; Torsten Reinisch 0176/ 45 98 73 46
 

Dorothee Wanzek