Uni Osnabrück stellt Studie zu sexuellem Misbrauch vor
"Vertuschen geht nicht mehr"
Foto: Matthias Petersen
Die Osnabrücker Unipräsidentin Susanne Menzel-Riedl fand auf der Pressekonferenz deutliche und zugleich hoffnungsvolle Worte: „Verleugnen, vertuschen, verharmlosen, herunterspielen – das geht jetzt nicht mehr.“ Der Abschlussbericht der Studie zur sexualisierten Gewalt im Bistum Osnabrück, den sie gemeinsam mit der Forschungsgruppe der Öffentlichkeit vorstellte, zeige das „erschütternde Ausmaß“ und diene als Sachbasis, die dazu verpflichte, Dinge aufzuarbeiten und zu verändern. „Das erwarte ich vom Bistum“, so die Präsidentin. Der Bericht enthalte „passende Formate und Worte“, damit sich „das Leid nicht noch verschärft“, betonte sie mit Blick auf die Forschungsgruppe, die sich aus Wissenschaftlern und Betroffenen zusammensetzt.
Für den Zeitraum von 1945 bis heute ermittelten die Mitarbeiter 122 Priester und Diakone, denen sexualisierte Gewalt an 349 Betroffenen vorgeworfen wird, zu mindestens 60 weiteren Betroffenen lägen konkrete Hinweise vor. Diese Zahl sei jedoch nur eine Mindestzahl, die Dunkelziffer liege deutlich höher – Schätzungen gingen bis zum Zehnfachen, erklärte der Rechtswissenschaftler und Leiter der Studie, Hans Schulte-Nölke. Die vorgeworfenen Taten reichten von Distanzverletzungen bis hin zu schweren und schwersten Sexualstraftaten. Mit 53 Tätern waren fast die Hälfte der Beschuldigten Mehrfachtäter, in einem Fall gab es sogar 26 Betroffene.
Ausschnitte aus Interviews und Aktenfunden werden szenisch verdichtet
Nachdem der Zwischenbericht im Jahr 2022 viele Fälle sexuellen Missbrauchs und deren Vertuschung auflistete, beschäftigten sich die Wissenschaftler und Betroffenen nun auch mit den Dynamiken und Mustern von Erzählweisen (Narrativ) und der Frage, wie Tatvorwürfe durch Beschuldigte, Kirchenverantwortliche und das soziale Umfeld umgedeutet wurden und wie es dadurch möglich wurde, Taten zu begehen und zu verdecken. Kirchenleitungen gingen vielfach nicht oder nur unzureichend gegen die Beschuldigten vor und ermöglichten so weitere Taten, so das Ergebnis. In kurzen Erzähltexten werden Ausschnitte aus Interviews und Aktenfunden szenisch verdichtet. Exemplarische Vorfälle im Schwimmbad, im Kinderheim, im Beichtstuhl, im Internet, im Unterricht, in der Familie zeigen Erfahrungen, die Betroffene machen mussten, versehen mit Mustern, die dahintersteckten. Historikerin und Leiterin der Studie, Siegrid Westphal, erklärt: „Viele Betroffene können oder möchten aus guten Gründen nicht öffentlich über ihre Erfahrungen sprechen. Viele sind auch schon verstorben. Wir sehen die Einblicke als mittelbare Zeugnisse an, in denen wir ihr Wissen bewahren und weitergeben können.“
Dem Bistum Osnabrück bescheinigten die Wissenschaftler eine Lernkurve, „die nach oben zeigt“, so Schulte-Nölke. „Jedoch bleiben die an Betroffene erbrachten Leistungen noch hinter dem zurück, was die staatlichen Gerichte in klaren Fällen zusprechen würden.“ Auch wünsche er sich eine proaktive Leistung und fragt: „Warum warten die Bistümer, bis jemand einen Antrag stellt, statt selbst zu ermitteln und Zahlungen zu leisten?“
An der unabhängigen Studie, die das Bistum Osnabrück als Auftraggeber mit 1,3 Millionen Euro finanzierte, wirkten ganz bewusst Betroffene sexualisierter Gewalt mit. „Sie haben uns die Augen geöffnet, Einblicke und neue Perspektiven erlaubt. Viele Ergebnisse sind nur deshalb da“, so Westphal über die gelungene Zusammenarbeit. Auf die Frage nach dem Mehrwert der Studie hat Karl Haucke als Vertreter der Betroffenen eine klare Antwort: „Aufarbeitung ist Zukunftsgestaltung. Nie wieder sollen Kinder das erleben müssen.“ Dem Bistum Osnabrück gab er einen guten Rat: „Nehmen Sie die Impulse und Informationen aus der Studie ernst! Sie sollten alles umkrempeln mit dem einen Ziel: Sichere Räume für Kinder und Jugendliche.“
"Bei der Veränderung systemischer Ursachen haben wir noch ein großes Lernfeld.“
Bischof Dominicus reagiert in einer ersten Stellungnahme beschämt, „dass zahlreichen Kindern, Jugendlichen und anderen Schutzbefohlenen in der katholischen Kirche ausgerechnet von denen, von denen sie sich Zuwendung und Schutz erhofften, solches Leid zugefügt wurde“. Die Studie führe „die Dimension dieses Grauens“ noch einmal vor Augen. Nach dem Zwischenbericht sei im Bistum bereits vieles getan worden, um den Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt und die Prävention weiter zu verbessern. „Ich werde in den nächsten Tagen, auch in Rücksprache mit Fachleuten und Betroffenen, eine erste gründliche Auswertung des nun vorliegenden Abschlussberichts vornehmen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse werden mir als neuem Bischof von Osnabrück helfen, den Schutzprozess gegen sexualisierte Gewalt gemeinsam mit den vielen Engagierten insgesamt weiter zu stärken und in die Zukunft zu führen“, so Dominicus, der sich am Mittwoch, 9. Oktober, in einer Pressekonferenz ausführlicher äußern wird.
Katharina Abeln, Vorsitzende des Katholikenrats im Bistum Osnabrück, zeigte sich angesichts der Zahlen ebenfalls betroffen. „Das sind massive Zahlen“, sagte sie auf Anfrage des Kirchenboten. Als positiv hob sie die starke Einbeziehung von Betroffenenvertretern in die Studie hervor. „Das ist ein wichtiger Blickwinkel, den wir bei der Aufarbeitung einnehmen müssen“, sagte sie mit Blick auf weitere Schritte. Der Abschlussbericht beende das Thema keinesfalls. „Für die Zukunft müssen wir jetzt sehen, dass wir noch genauer hinschauen. Bei der Veränderung systemischer Ursachen haben wir noch ein großes Lernfeld.“
Astrid Fleute/Matthias Petersen
Einen Kommentar lesen Sie hier.
Die Studie können Sie hier herunterladen.
Kontakt zu unabhängigen Ansprechpersonen finden Sie hier.