Heimat - von der Wiege bis zu Bahre? Drei Lebensgeschichten

Von Menschen und ihren Wurzeln

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Heimat – „wie im Himmel, so auf Erden“: In der zweiten Folge der Jahresserie fragen wir, ob sich „Heimat“ in den verschiedenen Lebensphasen verändert. Von der Wiege bis zur Bahre: Bleiben die Wurzeln immer dieselben? Oder kann man an vielen Stellen Wurzeln schlagen? Auskünfte von drei Lebenserfahrenen.

Von Südthüringen nach Limburg nach Australien und zurück

Bruder Ludwig Günther
Bruder Ludwig Günther
Foto: Heike Kaiser

Die längste Zeit seines Lebens hat der Pallottiner Ludwig Günther in Australien verbracht. Wieder zurück in Limburg vermisst der Missionar die Sonne und das Meer. Trotzdem fühlt er sich jetzt in der Domstadt zuhause.
„Die Schlosserei, die Schreinerei, all die Werkstätten und die landwirtschaftlichen Flächen: Alles ist weg. Stattdessen entstehen jetzt neue Gebäude auf Grundstücken, die früher unserer Gemeinschaft gehörten.“ Bruder Ludwig Günther fand eine total veränderte Welt vor, als er im Oktober vergangenen Jahres ins Missionshaus der Pallottiner nach Limburg zurückkehrte. Dahin, von wo aus er 55 Jahre zuvor, im Oktober 1962, nach Australien aufgebrochen ist.

Der gelernte Landwirt ist 1949 von Südthüringen aus „in den Westen“ geflohen, wollte gezielt zu den Pallottinern, „weil einer aus meinem Heimatdorf das auch gemacht hat und inzwischen Pater war“, erzählt der knapp 82-Jährige. Bruder Ludwig wurde 1962 in die Mission geschickt, war in Niederlassungen seiner Gemeinschaft im Nordwesten, Westen und Osten Australiens tätig. „Ich war dafür zuständig, dass die Wasser- und Stromversorgung funktionierte und habe so manchen Kraftfahrzeug-Motor auseinander- und wieder zusammengebaut“, berichtet Bruder Ludwig. „Das meiste davon musste ich mir selbst beibringen“, sagt er schmunzelnd. Er erinnert sich gern an diese Zeit, fährt beim Erzählen immer wieder mit dem Finger über eine Landkarte Australiens, um zu demonstrieren, wie groß die Entfernungen zwischen den Niederlassungen der Pallottiner dort sind.

» Hier habe ich einen beschützenden Raum im Alter. «

Südthüringen, das Missionshaus in Limburg, 55 Jahre Australien – und nun wieder Limburg. Was davon ist für ihn Heimat? „Wäre ich 20 Jahre jünger, würde ich sofort sagen: Australien“, antwortet Bruder Ludwig. „Aber jetzt, im Alter, ist es wohl Limburg“, meint er ein wenig wehmütig.

Er hat selbst entschieden, hierher zurückzukehren. Am meisten vermisst er allerdings das warme Wetter in Australien. „Hier ist es immer so kalt, und im Meer kann ich hier auch nicht schwimmen.“ Zur Erinnerung an „down under“ hat er Fotoalben mitgebracht – und jede Menge Muscheln, aus denen er Uhren bastelt, eines der Hobbys, die sich Bruder Ludwig bewahrt hat.

Fällt es ihm schwer, sich in seiner „neuen alten Heimat“ nach so langer Zeit wieder zu integrieren? „Nein“, antwortet er entschieden. „Damit habe ich überhaupt kein Problem.“ Das liege, meint der Ordensmann, vor allem daran, „dass ich jetzt, im Alter, hier durch meine Mitbrüder einen beschützenden Rahmen habe.“ Viele kennt er noch von früher, „und mit denen verstehe ich mich gut.“

An die vielen Bagger und Raupen auf den Baustellen in direkter Nachbarschaft des Missionshauses hat sich Bruder Ludwig inzwischen gewöhnt. Auch daran, dass dieses Gelände nicht mehr den Pallottinern gehört. „Wenn ich könnte, würde ich sogar gerne mit anpacken und die schweren Fahrzeuge fahren“, räumt er ein. Und denkt daran, wie oft er das in Australien getan hat. (kai)

 

„Im Rhoi schwimme und uff de Gass spiele, das war Kindheit“

Liesel Häffner Foto: Anja Weiffen
Liesel Häffner
Foto: Anja Weiffen

Viele können sich das heute nicht vorstellen: In einer einzigen Stadt zu leben, 79 Jahre lang. Liesel Häffner tut genau das und vermisst – nichts. Erlebt hat sie genug.

Montags morgens kurz vor 9 Uhr in der Mainzer Altstadt: Liesel Häffner macht sich auf den Weg. Mit zwei weiteren Frauen strebt sie ihr Ziel an. Ein Hotel mit Schwimmbad, direkt am Rhein. Dort geht sie regelmäßig schwimmen. Auf dem Weg dorthin hier ein „Hallo“, dort ein „Guten Morgen“. Man kennt sich in der Altstadt, „die Leut’ im Verdel“. „Ich muss nichts erleben, aber ich brauche Menschen, wenn ich aus der Haustür gehe“, sagt die 79-Jährige.

Auf die Frage, was für sie Heimat ist, antwortet Liesel Häffner ohne zu zögern: „das Elternhaus, die Pfarrei, die Sankt-Ignaz-Kirche, Familienereignisse wie die Taufe ihrer drei Söhne, Hochzeiten, Erinnerungen – und Kolping. Seit 45 Jahren gehört sie zur Kolpingsfamilie. Im Vorstand von Kolping Mainz-Zentral engagiert sie sich. „Kolping gibt mir so viel“, sagt sie nachdrücklich. Bereits ihr Vater war „ein alter Kolpinger“, bemerkt sie lachend. Ihre „schönsten Zeiten“ hatte sie bei Kolping, noch im alten Kolpinghaus. Sie gerät ins Schwärmen. Und erst die Fassenacht …

Auch schwere Zeiten stand sie in der Altstadt durch. „Den Krieg habe ich hier miterlebt.“ Drei Straßen weiter von ihrer heutigen Wohnung steht ihr Elternhaus. „Als Kinder konnten wir nichts kaputt machen. Es war schon alles kaputt.“ Gespielt hatten sie damals immer auf der Straße. „Im Rhoi schwimme, renne und uff de Gass spiele, das war Kindheit.“ Mit 21 die Heirat. Ihr Ehemann stammte aus der Nähe von Bingen, die junge Familie lebte in Mainz. Acht Jahre nach der Hochzeit starb ihr Mann an einer schweren Krankheit. Mit 29 Jahren war Liesel Häffner Witwe. „Das ist jetzt 50 Jahre her“, erinnert sie sich nachdenklich.

Warum sie nie einmal woanders hingegangen ist, um dort zu leben, kann die passionierte Altstädterin nur so beantworten: „Meine Erinnerungen sind mit der Mainzer Altstadt verbunden. Und auch meine Kinder und andere Verwandte wohnen in der Nähe. Die wenigsten sind weggezogen.“ Sieben Enkel hat sie, und Laubenheim, Bodenheim und Oppenheim sind von Mainz keine Weltreise entfernt.

Die Ortstreue wirkt wie eine logische Fortsetzung ihrer Lebensgeschichte. 14 Tage Urlaub reichen ihr, um mal was anderes zu sehen, sagt sie und scherzt: „Die Mainzer Neustadt ist für mich schon Ausland.“

» Wenn ich den Dom seh', dann bin ich daheim. «

Das europäische Ausland hat Liesel Häffner zu Genüge bereist. Früher war sie mit der Kolpingsfamilie unterwegs, später mit Bekannten oder in der Gruppe. Allein wegfahren liegt ihr nicht. Inzwischen hat sich das Allgäu als konstantes Urlaubsdomizil herausgestellt.

13 Mal hat sie dort schon zusammen mit ein paar Kolping-Frauen bei Ordensfrauen, Borromäerinnen, gewohnt. Doch Mainz bleibt Mainz, bleibt Heimat. „Wenn ich den Dom seh’, dann bin daheim.“

Worauf Liesel Häffner an ihrer Heimatstätte wartet, ist, dass die Bauarbeiten an der Sankt-Ignaz-Kirche beendet werden. „Wenn bald wieder die Orgel spielen würde, wir demnächst wieder die Kirchenglocken hören könnten und ein paar mehr Leute in die Gottesdienste kommen würden, das wäre schön.“ Aber sie will nicht klagen. Sie bleibt dabei: „Hier in der Altstadt fühl’ ich mich wohl. Das Verdel gefällt mer.“ (wei)

 

Mit dem Älterwerden wird klarer, wo die eigenen Wurzeln sind

Gunter Geiger Foto: privat
Gunter Geiger, Foto: privat

„Nach Hause kommen“ ist für Gunter Geiger „die kleine Schwester von Heimat“. Darum konnte er sich an vielen Orten heimisch fühlen. Solche Heimatgefühle haben vor allem mit Menschen zu tun, die ihm begegnen. Und doch: Heimat fand er auch in zwei hessischen Städten.

Der Direktor des Bonifatiushauses in Fulda wurde am 7. Dezember 1967 in Frankfurt am Main geboren. Als Gymnasiast besuchte er die Internatsschule Institut Lucius in Echzell. Nach dem Abitur 1988 trat er in die Bundeswehr ein und ließ sich zum Truppendienstoffizier ausbilden. Diese Jahre verbrachte Gunter Geiger in Marburg und Wetzlar, längere Zeit auch in Bremen.

„Ich habe immer versucht, an allen Orten heimisch zu werden. Auch da, wo ich länger auf Lehrgängen war“, erzählt er. „Also nicht an den Wochenenden nach Hause fahren, sondern die Region, Land und Leute, erkunden. Sehenswürdigkeiten besuchen, die jeweilige Lebensart und die Bräuche kennenlernen.“ Auf diese Weise gelang es, sich überall gut einzuleben und Bekanntschaften zu schließen.

Ab 1991 ging es zum Studium nach Hamburg: Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften an der Universität der Bundeswehr. Ein Auslandssemester führte in die USA an die Arizona State University. Als Diplom-Volkswirt schloss Geiger 1994 sein Studium in Hamburg ab. „Diese Jahre waren alle schön, vor allem Hamburg ist eine tolle Stadt“, blickt er zurück. Noch immer ist er Fußballfan des HSV. Aber sein Leben lang in Hamburg sein wollte er nie.

Es verschlug ihn nach Osthessen. Nach einer Tätigkeit als Transportzugführeroffizier und später als Jugendoffizier in Strausberg bei Berlin wurde Geiger 1998 Referent für politische Bildung im Haus der Weiterbildung der Diözese Fulda. Ab 2001 war er stellvertretender Hausleiter sowie kommissarischer Verwaltungsleiter, 2004 Direktor des Bonifatiushauses.

» Es war eine gute Entscheidung, nach Fulda zu gehen. «

„In Fulda bin ich wirklich angekommen, habe Heimat gefunden“, sagt er. „Die Stadt, die Region, die Rhön – es ist super, hier zu leben.“ Der Oberstleutnant der Reserve ist verheiratet und hat zwei Kinder. Familie gründen, ein Eigenheim bauen, dafür sei ein Vorort der überschaubaren und lebenswerten Stadt genau richtig. Mit inzwischen 50 Jahren weiß Geiger: „Es war eine gute Entscheidung, nach Fulda zu gehen.“

Doch mit dem Älterwerden wird ihm klarer: Er selbst ist auch stark mit Frankfurt verbunden, der Stadt seiner Kindheit und Jugend. „Ich habe das erst mit den Jahren gemerkt, nach der Ablösung von Frankfurt. Erst jetzt kommen Wurzeln und Erinnerungen zum Vorschein: Unbeschwert durch den Stadtteil Oberrad streifen, mit dem Fahrrad zum Goetheturm, Kinderfasching im Henningerturm. Frankfurt sei eine bedeutende und eine gemütliche Stadt, so Geiger: „Es ist einfach, Leute kennenzulernen und ins Gespräch zu kommen. Man rutscht beim ,Äbbelwoi‘ auch für Fremde auf der Bank zusammen. Frankfurt hat Kaiser und Könige gekrönt, blieb aber liberale Bürgerstadt. Die Menschen sind bis heute weltoffen.“

Und weil ein Zuhause-Gefühl für ihn vor allem mit Erinnerungen und den Menschen zu tun hat, denen er begegnete, ist es für Gunter Geiger kein Widerspruch: Fulda und Frankfurt sind ihm gleichermaßen Heimat. Noch einen Aspekt von ,Heimat‘ gibt es für Gunter Geiger, der gern und oft in benediktinischen Klöstern zu Exerzitien war: „Da hat es mir gefallen. Beim gemeinsamen Beten habe ich auch Heimat gefunden.“ (ez)