Seniorenheim St. Clara pilgert zum Dom
Von Sackgassen und Irrwegen

Foto: Katrin Kolkmeyer
Für knapp 40 Seniorinnen und Senioren geht es auf Pilgerreise. Sie wandern vom Pflegeheim St. Clara in der Osnabrücker Schillerstraße bis zum Dom. Allen voran: Diakon Carsten Lehmann.
Nicht nur die Glocken des Doms kommen in Bewegung. Wer nachmittags über den Domplatz spaziert, dem bietet sich ein ungewöhnliches Bild: Eine lange Schlange aus Rollstühlen und Rollatoren zieht vorbei – langsam, singend, unter Begleitung von Ehrenamtlichen und Pflegepersonal begeben sich 36 Bewohnerinnen und Bewohner des Seniorenheims St. Clara auf Pilgerschaft.
Ruth Rotert, die Initiatorin, hatte sich den Auftakt anders vorgestellt. Draußen, im Garten der Einrichtung, sollte ein kleiner Gottesdienst abgehalten werden. Doch der Wetterbericht war eindeutig, die ersten Tropfen färbten den Asphalt der Schillerstraße bereits dunkel. Spontan verlegte Rotert den Start also in die hauseigene Kapelle. Ein Ort, der sonst ein ruhiger ist, wurde für den Moment zu einem sehr belebten.
Jede Kerze ein Wunsch
Ein Bewohner, der an diesem Tag mit pilgert, ist Jürgen Peter Mann. Um kurz vor 16 Uhr macht er sich gemeinsam mit seinen Mitbewohnern auf den Weg zur Kapelle. Der 85-Jährige sitzt im Rollstuhl, steuert ihn durch den Gang, der von beiden Seiten von Handläufen gesäumt ist, bis zur Kapelle. Es geht vorbei an einem Speisewagen. Darauf: Bunt verzierte Kerzen – Sonnen, Regenbögen, Blumen. Die Bewohner des Hauses haben sie selbst bemalt, sie sollen später im Dom angezündet werden.
„Mit den Kerzen sollen die Bewohner sich etwas wünschen, nur für sich, nicht für andere", sagt Ruth Rotert. Schließlich zündeten die Seniorinnen und Senioren immer mal wieder ein Licht für jemanden an, doch heute gehe es ausschließlich um sie selbst, erklärt sie. Auf dem Weg zur Kapelle kommen die Bewohner an grünen Schildern vorbei. Sie hängen im ganzen Haus, sollen Impulse setzen und auf die Pilgerreise vorbereiten. Auf einem heißt es: „Irrwege und Sackgassen".

Ich will meine acht Enkel noch lange aufwachsen sehen.
Jürgen Peter Mann weiß, wovon er spricht, wenn es um Irrwege und Sackgassen geht. „Ich war ja Flüchtling, damals im Krieg." Auch mit der Familie sei es schwer gewesen. Sein Bruder sei blind gewesen und vor kurzer Zeit verstorben. Und auch seine Ehefrau, erzählt der 85-Jährige, sei tot. „Das klingt alles noch nach." Wenn die Kerzen später im Dom brennen, hat er nur einen einzigen Wunsch: „Ich möchte meine acht Enkel noch lange aufwachsen sehen."
Ein Geschenk von Gott
Auch Elisabeth Schicktanz hat eine Kerze gestaltet. Ihr Wunsch? „Dass ich morgens gesund aufwache", sagt sie, „und dass ich meinen Hobbys noch lange nachgehen kann." Denn die 93-Jährige malt – auf Papier, Leinwände und Porzellantassen. „Ein Geschenk von Gott ist das", sagt sie. Solange das noch gehe, sei sie glücklich.

In der Kapelle spricht Diakon Carsten Lehmann zu den Seniorinnen und Senioren. Über unterschiedliche Lebenswege, das gemeinsame Gehen – über das heilige Jahr 2025 und den Aufruf von Papst Franziskus, sich als Pilger der Hoffnung zu verstehen. Während der Diakon das erste Lied anstimmt, wird es heller in der Kapelle. Durch die blauen Buntglasfenster bahnt sich die Sonne ihren Weg. „Wenn das kein Zeichen ist", sagt Lehmann und lächelt den Bewohnern verschmitzt zu.
„Wie ist das jetzt, wie geht das weiter mit einem?"
Helene Sure, 89, ist begeistert davon, dass sie sich an diesem Tag auf Wanderschaft begeben. „Ich freue mich darauf, dass wir in der Gemeinschaft zusammen beten", sagt sie. „So kommen wir auch mal wieder raus." Sie scheint kurz innezuhalten, sagt: „Wenn man fast neunzig ist, dann fragt man sich manchmal schon: Wie ist das jetzt, wie geht das weiter mit einem?"
Manche verlassen sonst selten ihr Zimmer
Die Idee zum Pilgern kam von Ruth Rotert. Schon lange habe sie das Projekt mit sich herumgetragen. Den Ausschlag gab der Abschied einer Kollegin, die in ihre Heimat nach Indien zurückkehrte. Mit einer weiteren Kollegin wollte sie deshalb eine Pilgerreise nach Indien machen, ihr einen Besuch abstatten. Als Rotert den Bewohnerinnen und Bewohnern des St. Clara erzählte, dass sie für sich eine Pilgerreise plane, sei das Thema auch im Heim plötzlich präsent gewesen. Das Interesse der Seniorinnen und Senioren an einer eigenen Pilgerreise war geweckt. „Unsere Bewohner waren gleich total angefixt", sagt Rotert.

Und so war der Entschluss gefasst: Das St. Clara werde selbst pilgern, von der Schillerstraße zum Dom. Für einige mag es ein Weg von nur 500 Metern sein, für andere ist es eine Pilgerreise, die herausfordert. Denn: Es gibt Bewohner, die sonst ihre Zimmer kaum noch verlassen.
Jeder für sich und doch gemeinsam
16.30 Uhr: Vor dem Heim hat sich inzwischen eine Kolonne gebildet. Zwei Häuser lang reicht der Pilgerzug. Singend geht es vorbei am Haarmannsbrunnen, über das holprige Kopfsteinpflaster der Herrenteichstraße, das die Rollstühle und Rollatoren kurz auf die Probe stellt. Die Vollgummireifen rattern mit ihren Besitzern über die Straße. Das Tempo: gemächlich. Vor dem Gymnasium Carolinum bleibt die Pilgertruppe stehen. Links über den Dächern ist der Kirchturm des Doms zu sehen, grau und erhaben wirft er seinen Schatten auf die Pilgernden. Bevor sie durch den Hexengang ziehen, gibt es noch einen Impuls unter freiem Himmel.
Welche Steine lagen im Weg?
1250 Jahre gebe es die Kirche nun schon in Osnabrück, sagt Carsten Lehmann. Viele Wege seien in dieser Zeit entstanden und gegangen worden. Dann wendet er sich direkt an seine Zuhörer: „Welche Wege waren in ihrem Leben besonders erinnerungswürdig? Welche Umwege mussten sie gehen?" Und: „Welche Steine lagen im Weg – welche haben sie selbst weggeräumt?"

Mit diesen Fragen im Gepäck zieht der Zug weiter. Der Hexengang ist schmal, der Boden uneben. Doch der älteste Pilgerzug der Stadt meistert auch diesen Weg, zieht kurze Zeit später und unter Glockengeläut durch das Haupttor in den Dom ein. Dort, im Schein der bunten Kerzen, feiern die Seniorinnen und Senioren mit ihren Begleitern gemeinsam eine Wort-Gottes-Feier. Jeder für sich, und doch gemeinsam. Diakon Carsten Lehmann setzt sich auf die Stufen unterhalb des Altars, spricht auf Augenhöhe zu den Pilgernden von St. Clara.
Irrwege und Sackgassen

Ganz am Ende tritt Ruth Rotert nach vorn. Sie bedankt sich bei den Bewohnerinnen und Bewohnern, den Helfenden; allen, die den Tag möglich gemacht haben. Ihre Stimme bricht und Tränen stehen in ihren Augen. Auch sie hat gerade einen ganz eigenen Irrweg hinter sich, musste um ihre Gesundheit bangen. Doch die Sackgasse war zum Glück nur eine vermeintliche. Entwarnung.
Ein bewegender Tag ist es. Für alle, die sich an diesem Nachmittag aufgemacht haben. Nicht viele Meter zeichnen diese Pilgerreise aus, doch die Menschen, die sie begingen. Die Pilgernden mit ihren jeweils ganz eigenen Vergangenheiten und Erlebnissen zeigen, dass Irrwege und Sackgassen im Leben dazugehören. Und: dass es immer Hoffnung gibt. Besonders dann, wenn Wege gemeinsam gegangen werden.