Nordhorner Verein kümmert sich um schwerkranke Jugendliche
"Wir sind eine große Familie"

Foto: Petra Diek-Münchow
Musik und Tanz geben Zuversicht: Das erleben junge Leute und ihre Wegbegleiter bei dem Projekt „Ein neuer Tag beginnt“ in Nordhorn – wie Manuela van Greuningen (ganz links), Marie Feiertag und Frank Gottschalk (Mitte).
Hier ist Leben in der Bude. Über 20 Jugendliche und Erwachsene sitzen im großen Kreis zusammen. Die einen unterhalten sich fröhlich, die anderen summen sich ein, die nächsten stimmen Geige und Gitarre. Bis Marie Feiertag mit ihrem Rollstuhl vor das Mikro fährt. Die Gruppe scheint zu spüren, dass die 23-Jährige aufgeregt ist. Alle werden nun leiser, wenden sich ihr mit einem Lächeln zu. Und dann setzt sich Frank Gottschalk mit seiner Kistentrommel neben die junge Frau. Legt sachte eine Hand auf ihr Knie und gibt dort mit den Fingerspitzen einen Takt vor. Marie atmet tief durch und singt erst zögernd, dann immer sicherer einen Song von Max Giesinger und Madeline Juno. Der erzählt von Sorgen und Angst im Leben, von dem Haken und doppelten Boden: „Aber was, wenn’s den gar nicht gibt und du nur kurz glücklich bist.“ Nach dem letzten Ton gibt es begeisterten Applaus für Marie.
Der Alltag startet nicht unbeschwert
Sie gehört zu den jungen Menschen und ihren Wegbegleitern, die sich regelmäßig bei dem Musikprojekt „Ein neuer Tag beginnt“ in Nordhorn treffen. Der Name der von der Caritas-Gemeinschaftsstiftung Osnabrück prämierten Initiative ist dabei Programm, denn die Probenabende und Auftritte geben den Beteiligten Zuversicht und Kraft. Viele von ihnen kennen einen Alltag, der morgens nicht immer unbeschwert startet: weil sie an einer schweren Krankheit leiden oder mit einer Beeinträchtigung leben. Bei dem „neuen Tag“ können sie loslassen – ohne Erklärung, ohne komische Blicke, ohne Druck. „Bei uns können sie sich alles von der Seele singen und tanzen, was sie in ihrem Innersten umtreibt“, sagt Frank Gottschalk.
Er ist der Initiator und Motor des Vereins, der sich an schwerkranke junge Leute und ihre Familien aus der Grafschaft Bentheim richtet. Die Idee bringt der Nordhorner 2018 aus der Kinderonkologie in Düsseldorf mit. Zwölf Jahre hat er dort als Ergotherapeut für krebskranke Kinder und ihre Angehörigen gearbeitet. Und setzt seine lebenslange Leidenschaft für die Musik in seinem Beruf ein. An der Uniklinik ruft er die „Fighting Spirits“ ins Leben: eine Band mit und für erkrankte Jugendliche. Gottschalk erlebt, wie die Musik ihnen neuen Mut und Lebenskraft verleihen kann. „Alles entsteht aus der Gemeinschaft“, ist der Grundgedanke des 59-Jährigen.
"Jeder Ton kommt von Herzen"
Er nimmt das Konzept mit in seine Heimatstadt, gibt seinen Vertrag am Krankenhaus auf und gründet mit Partnern den „neuen Tag“. Sponsoren sichern die finanzielle Grundlage, aber auf Spenden ist der Verein weiter angewiesen. Die sich nach seiner Überzeugung mehr als lohnen. „Wenn man erlebt, wie unsere Leute zusammenwachsen und zeigen können, was in ihnen steckt, dann ist das alles wert, was wir machen. Und wenn sie dann ihren ersten Liveauftritt haben, dann knallt es.“
Wie kürzlich bei dem Konzert in der Emlichheimer Kirche – eines von den regelmäßigen, mit denen das Projekt in verschiedenen Kirchen zu Gast ist. Die jungen Menschen singen dabei Lieder, die sie selbst ausgesucht haben: weil manche Zeile darin ihre Situation anrührend auf den Punkt bringt. Auch Marie Feiertag bereitet sich darauf vor. „Ich habe lange gebraucht, um mich das zu trauen.“ Eine Hirnblutung bei der Geburt wirkt sich auf ihre Beine aus, daher sitzt sie im Rollstuhl. In der Schule lernt sie sich bis zum Fachabitur durch, aber der Druck bei einer Ausbildung ist doch zu groß für sie. Jetzt arbeitet die junge Frau bei der „Lebenshilfe“, eine Einrichtung für Menschen mit verschiedensten Beeinträchtigungen. Und im März zieht sie in eine eigene Wohnung. Dazu gehört viel Selbstvertrauen, und eine große Portion davon nimmt sie aus dem Musikprojekt mit. „Jeder von uns wird so angenommen, wie er oder sie ist“, sagt sie. Sie fühlt sich wohl und aufgefangen in der Runde. „Ich werde langsam sicherer, weil man hier so tolle Unterstützung hat. Wir sind hier wie eine Familie.“ Und sie lernt auch, die „Latte nicht so hochzulegen. Es ist nicht schlimm, wenn man nicht perfekt ist“.
Dieses Gefühl möchte auch Manuela van Greuningen den jungen Leuten mitgeben. Die 56-Jährige engagiert sich mit vielen Ehrenamtlichen seit dem Start für den „neuen Tag“. Sie studiert mit den jungen Leuten die Songs ein – mit fundierten Tipps und viel Lob. Van Greuningen bringt dabei ihre Leidenschaft für die Musik und Erfahrungen aus zwei Berufen ein: früher als Krankenschwester, seit zwölf Jahren als Musiktherapeutin bei der „Lebenshilfe“. Durch diese Arbeit weiß sie, wie die Musik Angst nehmen und Stärke geben kann. „Das verwandelt die Menschen. Jeder Ton kommt von Herzen – und das erfüllt mein Herz.“
Wer die Probenabende erlebt, spürt das in jeder Minute. Auch bei Talisa, Enna, Lisa und Eske, die vor dem Spiegel Tänze zu ihren ausgewählten Songs einstudieren: zum Beispiel zu der Frage von Adel Tawil, ob da jemand ist, „der mir den Schatten von der Seele nimmt“. Wenn man die vier sieht und hört, wie sie mit Inbrunst diese Zeilen singen, die so viel auch von ihrem eigenen Leben erzählen, rührt das zutiefst an. „Wir erkennen uns darin wieder“, sagt Lisa. Genau wie in dem Projektlied „Menschenkinder“, das stimmt die ganze Runde noch mal extra laut an: „Ich bin gut, wie ich bin. Hier bin ich geborgen … wenn ein neuer Tag beginnt. Weil wir zusammen sind.“
Das Musikprojekt „Ein neuer Tag beginnt“ finanziert sich durch Zuschüsse und Spenden. Wer mithelfen oder mehr Informationen möchte, kann sich an Leiter Frank Gottschalk wenden: Telefon 0 59 21/9 08 80 49, E-Mail: info@einneuertagbeginnt.de, Internet: https://www.einneuertagbeginnt.de