Zur Religion darf der Fußball nicht werden
Er ist fußballverrückt, vor allem „Mainz 05-verrückt“. Als „Meenzer“ im Odenwald hat Diakon Martin Huber schon einige Fußballfans in der Gemeinde „zum rechten Glauben geführt“ – will heißen: zu Mainz 05 „bekehrt“. Die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland verfolgt er natürlich mit Spannung. Von Maria Weißenberger.
Kein Grund zum Jubeln – aber ein „Weltuntergang“ ist es für Martin Huber auch nicht, dass die deutsche Nationalelf am vergangenen Sonntag mit einer Niederlage gegen Mexiko in die WM-Titelverteidigung gestartet ist. „Niederlagen gehören dazu – das ist wie im Leben“, schreibt er am Montag danach in einer E-Mail. Ja, es gibt Wichtigeres als Fußball für den 53-Jährigen. Gerade hat er den kommenden Schulgottesdienst zusammen mit einer Ehrenamtlichen vorbereitet; vor ihm liegt noch eine Begräbnisfeier.
„Fußball ist wie viele Sportarten ein schöner Zeitvertreib – aber das wahre Leben kann er nicht widerspiegeln“, weiß Martin Huber. Und total beherrschen darf der Fußball sein Leben auch nicht – bei aller Liebe zu Mainz 05. „Meine Arbeit in der Seelsorge geht grundsätzlich vor“, betont er. Wobei er – seit über zehn Jahren 05-Mitglied und Dauerkarteninhaber – durchaus versucht, planbare Termine am Wochenende dem Spielplan anzupassen. „Geht aber nicht immer“, sagt er, und deshalb muss sein Platz im Stadion auch in der Regel nicht leer bleiben. Es findet sich schon jemand, der ihn „würdig“ vertritt.
Gut erinnert sich Huber an ein großes Eltern-Kind-Treffen eine Woche vor Ostern, das zur Erstkommunionvorbereitung gehörte. Der Termin ließ sich nicht verschieben. „Die Eltern haben mich unterwegs über das Spiel auf dem Laufenden gehalten“, erzählt er, „und sie fanden es toll, dass ich zuguns-ten des Treffens auf den Besuch im Stadion verzichtet habe.“
Was es bedeutet, wenn der Diakon beim Einzug in die Kirche strahlt
Seine Begeisterung für den Fußball ist den Menschen in der Gemeinde natürlich längst bekannt – kein Wunder, sie lässt sich ja kaum verbergen. Und dass er Mainz 05-Fan ist, merkt man spätestens, wenn man seine Facebook-Seite anschaut. Die Leute akzeptieren das, auch jene, die diese Leidenschaft nicht teilen. „Ich bin umgeben von Eintracht- und Bayern-Fans, auch BVB-Anhänger gibt es hier. Aber bei Erfolgen der 05er freuen sie sich mit mir.“ Dass sie bei Niederlagen mit ihm leiden, das wäre wohl zu viel verlangt – dann muss er schon mal aushalten, dass er bemitleidet wird. „Nach dem Gottesdienst kann schon mal die Bemerkung kommen: Heute haben Sie beim Einzug so gestrahlt, dass wir sofort wussten: Mit Mainz ist alles okay.“
Mittlerweile gibt es sogar eine Gruppe von sechs Leuten aus der Gemeinde, die regelmäßig mit zu den Spielen im Mainzer Stadion fahren. „Die habe ich quasi infiziert“, meint er lachend. Und übt natürlich immer wieder auch christliche Nächstenliebe, indem er Dortmund- oder Bayern-Fans bei Spielen ihrer Mannschaften in Mainz im Mitgliedervorverkauf Karten besorgt.
„Meistens fahren vier bis sechs Leute zusammen nach Mainz“, erzählt Huber. Möglichst starten sie schon vormittags im Odenwald und verbringen gemeinsam einen „Mainz-Tag“ – das ist eine schöne Gemeinschaftserfahrung für alle, findet er. Und für ihn ist es ohnehin wichtig, in gewissen Abständen Mainzer Luft zu atmen.
Schließlich ist Mainz seine Heimatstadt. „Ich komme ja aus der Keimzelle, der Altstadt“, betont er. Der Fußball sei ihm wohl schon in die Wiege gelegt worden. Als Jugendlicher spielte er in der Messdienermannschaft von St. Ignaz. Sein Bruder, der leider früh verstorben ist, sei ein guter Fußballer gewesen; er spielte beim SV Moguntia 1896, den es heute nicht mehr gibt. „Ganz so talentiert wie mein Bruder war ich nie“, gesteht er – seine Begeisterung hat das allerdings nicht gemindert.
„Schon als Kind wurde ich ,uff die 05“ mitgenommen“, erinnert er sich. Während des Studiums, mehr noch danach, besuchte er regelmäßig die Spiele, soweit es seine Zeit hergab. „Die Atmosphäre im Stadion hat mich gefangen genommen“, sagt er. Eine Faszination, die sich im Lauf der Jahre steigerte – und zum Teil auch auf seine Kinder übertrug. Seine Tochter geht bisweilen heute noch mit ihm zu den Spielen.
„Mein Sohn hat sich mittlerweile emanzipiert“, sagt er schmunzelnd. Er wohnt in Darmstadt und hat sich den „Lilien“ zugewendet. Da übt sich der Vater in Toleranz. „Auch okay“, kommentiert er den Wechsel. Den Junior, meint er, beeindruckt bei dem Darmstädter Verein das „Ursprüngliche“, das in Mainz „etwas verloren gegangen“ sei. In dem viel kleineren Bruchweg-Stadion habe einfach eine Superstimmung geherrscht. Wenn er an den Aufstieg des Vereins in die 1. Liga denkt, gerät Martin Huber ins Schwärmen. „Das war sensationell. Wir sind nach dem Spiel im Autokorso durch die Stadt gefahren und haben spät abends in Heppenheim noch gefeiert. Wir waren so aufgedreht, dass wir einfach noch nicht nach Hause gehen konnten.“
„Meenz ist ein Dorf“, stellt er fest und begreift das durchaus als Kompliment für seine Heimatstadt. „Wenn wir früher nach einem Spiel vom Stadion in die Innenstadt gezogen sind, haben wir immer Resonanz erlebt. „Schee, dass ihr gewonne habt“, sagten Passanten. Oder eben: „Wie schad’ – heut habter verlor’n.“ Er freut sich, dass Mainz 05 nun schon zehn Jahre in Folge nicht abgestiegen ist – aber „irgendwann werden wir das sicher auch wieder erleben“, sieht er die Dinge realistisch.
Seinen Lebensmut und seinen Humor hat er sich bewahrt
Wie seine Ehefrau mit seiner Fußballverrücktheit umgeht? „Sie kennt mich ja und toleriert das glücklicherweise – sie weiß mich ja dann gut aufgehoben“, sagt er. „Ich habe Martina schon während der Ausbildung kennengelernt – Martin und Martina, das passt!“ Sie war als Gemeindereferentin in Nidda tätig, später in Groß-Umstadt. Leider kann sie ihren Beruf nicht mehr ausüben, weil sie eine unheilbare Muskelerkrankung hat – „damit mussten und müssen wir umgehen lernen“.
Dass es im Leben nicht immer wunschgemäß läuft, hat Martin Huber früh gelernt: 15 war er, als sein älterer Bruder starb, wenige Jahre danach starb sein Vater, dann die Mutter – beide an Krebs. Erfahrungen, die ihn geprägt haben. Seinen Lebensmut und auch seinen Humor hat Martin Huber sich dennoch bewahrt.
Außerdem hat er gelernt, den Fußball nicht über alles zu stellen. Obwohl der Sport auch eine „Lebensschule“ sei, in der Menschen lernen können, mit Niederlagen umzugehen, einander fair zu begegnen und trotz der Leidenschaft für den eigenen Verein keinen Hass gegen die anderen und deren Fans zu entwickeln.
Manches hat der Fußball durchaus mit der Kirche gemeinsam: Zum Beispiel, dass sich Menschen einer Gemeinschaft zugehörig fühlen und sich dazu bekennen. Aber auch die Rituale und die Gesänge vor und bei den Spielen – „ja, das hat was von Liturgie“, sagt Martin Huber. Über den Song „You’ll never walk alone“, die Hymne in Liverpool und Mainz, hat er bei seiner Einführung als Diakon gepredigt. „Ein schönes Lied, das viel an Hoffnung und Zusage enthält“, findet er. Und viele Menschen, weiß er, erinnern sich noch heute an diese Predigt und sprechen ihn darauf an.
Beten um den Fußballsieg – so weit geht die Liebe nicht
Zur Religion allerdings darf der Fußball nicht werden – und einen „Fußballgott“ gibt es für Martin Huber nicht. Um gute Fußballergebnisse beten? Da hält es der Diakon wie der Benediktinerpater, dem er jedes Jahr bei seinen Exerzitien in Niederbayern begegnet und der Fan von Hoffenheim ist. „Als Hoffenheim einmal der Abstieg drohte, sagte er: Für den Schmarrn bet i net.“ Für Martin Huber genau die richtige Einstellung: Das Gebet ist da nicht zu instrumentalisieren.
Bei aller Freude am Fußball, die er sich nicht vermiesen lässt: Manches muss man seiner Ansicht nach auch kritisch sehen. Dazu gehört etwa die Bezahlung der Spieler: „Das ist ja zum Teil stark übertrieben“, meint Huber, der bei seiner Arbeit mitbekommt, „wie sehr manche Menschen knapsen müssen“. Klar, dass ihre Leistung Anerkennung verdient, die sich auch finanziell niederschlagen soll – ausufern sollten die Gehälter nicht. Und auch einem Fußballstar sei es zuzumuten, nach der sportlichen Karriere noch einen anderen Beruf auszuüben, um Geld zu verdienen, findet der Diakon, der in seiner Pfarrgemeinde gerade ein „Jahr der Caritas“ mitgestaltet. „Es gibt viele arme Familien, Alleinerziehende und ältere Menschen, die trotz ihrer Rente auf Hartz IV angewiesen sind“, weiß er und sucht gemeinsam mit anderen nach Wegen, um zu helfen.
Dabei weiß er den Gemeindepfarrer, Pater Cyril Thundathil, mit „im Boot“. Der ist übrigens auch schon mitgefahren, wenn der „Meenzer Odenwälder“ nach Mainz aufgebrochen ist. Er tauscht auch schon mal den Predigtdienst mit dem Fußballverrückten, damit der kein Spiel versäumt. Pater Cyril weiß: „Es geht nichts über zufriedene Mitarbeiter.“