Wissen ist endlich, die Liebe nicht, sagt der Apostel Paulus

Alles nur Stückwerk

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Die Lesung aus dem Korintherbrief gehört zu den bekanntesten überhaupt. Beliebt ist sie bei Trauungen, denn es geht um die Liebe. Aber nicht nur. Ebenso wichtig sind die Sätze über die Grenzen der Erkenntnis – und die sind brisant.

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Mit brillanter Technik können wir in die Weiten des Weltalls oder in die Tiefen von Zellen blicken. Dennoch bleibt alles Forschen endlich. Foto: imago images/ZUMA Wire

Von Susanne Haverkamp

Es gibt Menschen, die sind sich ganz sicher, was stimmt. Was richtig und was falsch ist, was Wahrheit und was Irrtum. Es gibt sie in der Politik, in den Medien, in der Familie, am Arbeitsplatz, am Stammtisch. Und es gibt sie in der Kirche.

In der Kirche gibt es sie sogar sehr zahlreich – und das aus guten theologischen Gründen. Das Lehramt, so heißt es, kennt sie unter dem Beistand des Heiligen Geistes: die Wahrheit. Über Jahrhunderte hat sich diese Lehre entwickelt, langsam, aber stetig, bis sie im 19. Jahrhundert in der Unfehlbarkeit gipfelte. Und noch heute – vielleicht gerade heute wieder – ist dieser Gedanke Kernargument gegen die Modernisierer und Reformer. Sie opferten, heißt es dann gerne, die Wahrheit auf dem Altar des Zeitgeistes. 

An all das muss ich bei der Lesung aus dem ersten Korintherbrief denken. Paulus hatte die Gabe des Wahrheitswissens offensichtlich nicht. Ja, er scheint sogar davon überzeugt zu sein, dass der Mensch, Heiliger Geist hin oder her, die Wahrheit gar nicht erkennen kann. Paulus schreibt an die Gemeinde in Korinth:

„Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden.“

Stückwerk ist es – und vergänglich. So wie alles vergänglich ist, was wir hier auf Erden oft für so sicher und unumstößlich halten.

„Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.“

Paulus spricht nicht von der lichten Wahrheit, die wir im Hier und Jetzt erkennen können, sondern von rätselhaften Umrissen. Und er freut sich auf die Ewigkeit, wenn endlich alles klar wird.

„Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“

Denn die Wahrheit über uns und über alles kennt nur Gott. Alles andere wäre Anmaßung.

Für Naturwissenschaften selbstverständlich

Dass die menschliche Erkenntnis Grenzen hat, ist für die Naturwissenschaft völlig selbstverständlich. Beispielsweise in der Frage der Entstehung des Weltalls. Die Urknall-Theorie gilt inzwischen als gesichert, weil sie die Phänomene, die wir heute sehen, gut erklärt. Aber erstens bleibt sie eine Theorie – und damit nur so lange gültig, bis es eine bessere gibt. Und zweitens können wir nicht hinter den Urknall zurückschauen. Was ihn ausgelöst haben mag, was vor ihm war, dorthin reicht unsere menschliche Erkenntnis ganz prinzipiell nicht. Auch wenn wir die Naturwissenschaft als exakt, vernünftig, unbestechlich erleben, sie selbst sieht sich bescheiden: Hier auf Erden gibt es nur relative Wahrheiten. Alles Wissen ist vorläufig.

Aber Paulus geht es natürlich nicht um naturwissenschaftliche Erkenntnisse, ihm geht es um Gott, um Jesus, um die Auferstehung, um die Kirche – also um ewige Wahrheiten.
Er schreibt seinen Brief in eine zerstrittene Gemeinde. Die einen meinen dies, die anderen das; wie Gottesdienst gefeiert wird, ist umstritten; jeder hält sich selbst für wichtiger als die anderen; diese wissen dies ganz genau, die anderen jenes. Die Gemeinde in Korinth ist geprägt von „Spaltungen und Parteiungen“, so heißt es ausdrücklich im 11. Kapitel.
Da ist doch ein Machtwort erforderlich, könnte man meinen. Paulus soll mal sagen, wo es langgeht. Schließlich ist ihm Jesus persönlich vor Damaskus erschienen. Wer kann das schon von sich behaupten? Mehr Nähe zur ewigen Wahrheit geht ja wirklich nicht.

Paulus mahnt zur Vielfalt

Und doch macht Paulus etwas anderes: Er mahnt zur Vielfalt. Die vielen Gnadengaben unter den Gemeindemitgliedern bewirkt ein und derselbe Geist, hieß es vor zwei Wochen. Ihr seid alle ein Leib Christi und jedes Glied ist gleich wichtig, hörten wir letzte Woche. Und heute, an alle Schlauberger in Korinth: Wir sehen nur verschwommene Umrisse und Stückwerk ist unser Erkennen. Auch in Glaubensdingen.

Aber dabei bleibt Paulus nicht stehen. Er schaut nicht nur auf das, was relativ ist, unser Erkennen, er schaut auch auf das, was absolut ist: die Liebe. Er beschreibt sie mit Worten, die jeder kennt; manche mögen sie als Lesung zu ihrer Hochzeit ausgesucht haben. Das ist nicht falsch, aber Paulus schreibt an dieser Stelle nicht über die Beziehung zwischen zwei Menschen oder die Liebe in einer Familie. Paulus schreibt sein hohes Lied der Liebe im Zusammenhang mit einer zerstrittenen Gemeinde. So sollt ihr in der Kirche miteinander umgehen, das ist die Botschaft. Denn: Erkenntnis ist begrenzt, doch die Liebe hört niemals auf.

Eine notwendige Akzentverschiebung

Ich wünschte, diese Akzentverschiebung des Paulus würde sich in der Kirche durchsetzen. Gerade heute. Weniger Beharren auf angeblich sichere Wahrheiten und mehr Einsicht in die Begrenztheit unserer Erkenntnis, auch der gläubigen Erkenntnis. Denn wie lange galt es beispielsweise als unumstößliche religiöse Wahrheit, dass ungetauft gestorbene Kinder in die Hölle kommen? Oder dass die Todesstrafe eine gerechte Folge böser Taten ist. Oder dass man Sündenstrafen mit Geld begleichen kann. Oder dass die Welt in sieben Tagen geschaffen wurde. Oder vielleicht, dass nur Männer Priester werden können. „Erkenntnis vergeht“, sagt Paulus.

Und mindestens ebenso wichtig wäre für die Kirche in ihrer aktuellen korinthischen Zerstrittenheit wohl die zweite Botschaft des Paulus: „Die Liebe hört niemals auf.“ Wer in diesem Geist auf andere zugeht, der hat ganz sicher eine Menge von der ewigen Wahrheit Gottes verstanden.